Noam Chomsky
„Gorbatschows Vision ist immer noch eine Möglichkeit.“
Zur Person
Noam Chomsky, geboren am 7. Dezember 1928 in Philadelphia, studierte Linguistik in Harvard und machte sich mit seinem Standardwerk „Syntactic Structures“ einen Namen als interdisziplinärer Sprachwissenschaftler. Unter dem Eindruck des Vietnamkriegs begann sich der Forscher auch politisch zu engagieren und geriet dabei zunehmend in Konflikt mit den Positionen der US-Regierung sowie großen Teilen der Medien. Seine kapitalismuskritischen Veröffentlichungen finden sich seitdem in Dutzenden von Büchern und Beiträgen, manche erschienen sogar auf CD. Mit mittlerweile 93 Jahren ist der selbsternannte „libertäre Sozialist“ immer noch ein unermüdlicher Aktivist für soziale Gerechtigkeit und ein gefragter Analyst der politischen Landschaft. Chomsky lebt und arbeitet in Tucson, Arizona.
3. Mai 2022, Tucson. Noam Chomsky gilt als der am meisten zitierte US-Intellektuelle der Gegenwart. Besonders gerne wird er zitiert, wenn man anderer Meinung ist als er – und meinungsstark ist der inzwischen 93-Jährige auf jeden Fall. In seinem neuen Buch „Konsequenzen des Kapitalismus“ analysiert er verschiedene Faktoren, die den Planeten demnächst unbewohnbar machen könnten. Einer davon ist der Militarismus, auf den wir auch im Interview immer wieder zu sprechen kommen. Professor Chomsky zeigt sich passend zum Thema wütend und streitbar; seine Miene hellt sich nur dann kurz auf, wenn sein Hund wieder einmal durchs Bild huscht.
Noam Chomsky, ein Zitat, das in Ihrem neuen Buch vorkommt, lautet: „Es ist leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.“ Woran mag das liegen?
Das Zitat wird unter anderem dem Journalisten Marc Fisher zugeschrieben, aber ich glaube nicht, dass es stimmt. Im Grunde hat man zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Entweder man sagt: Alles ist hoffnungslos, ich gebe auf. Damit sorgt man aber auch dafür, dass das Schlimmste tatsächlich eintritt. Oder man ergreift die Gelegenheit, und versucht, eine bessere Welt zu gestalten, egal wie groß die Erfolgsaussichten sind. Alles andere ist für mich keine Alternative.
Trotzdem muss es schwer für jemanden wie Sie sein, der die US-Politik seit so vielen Jahrzehnten begleitet, wieder einmal zu sehen, wie alles den Bach runtergeht.
Das ist aber kein Fall von „wieder einmal“, sondern ein permanenter Zustand. Es war schon immer so, seit ich ein Kind war. Den ersten Artikel, an den ich mich erinnern kann, habe ich 1939 geschrieben, anlässlich des Falls von Barcelona. Als der Siegeszug des Faschismus in Europa und darüber hinaus unausweichlich schien. Dieser Moment hat sich genauso in mein Gedächtnis gebrannt wie der 6. August 1945. Mit der Atombombe hatte sich die Menschheit die Möglichkeit eröffnet, sich selbst und alles andere zu zerstören. Damals waren mir zwei Lektionen offensichtlich: Die intellektuelle und die technische Leistungsfähigkeit des Menschen hatten ein Niveau erreicht, auf dem es möglich wurde, die ganze Welt zu vernichten. Die moralische Kapazität des Menschen war dagegen noch nicht so weit gediehen, diesen Todeswunsch einzuhegen. Außerdem fiel mir auf, dass wir zwar alle über dieses Wissen verfügten, dass es aber niemanden weiter zu kümmern schien. Alle fuhren einfach mit ihrem Alltag fort. Diese riesige Lücke zwischen der Zerstörungswut und der moralischen Reife, sie zu bannen, existiert noch heute.