Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen

September 2016 / Seite 2 von 3

Regalwände und Jenga-Türme

Das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen in der UKGM spricht sich als Akronym ZusE. Bei der Neubenennung (zuerst hieß es nur „ZuK“ für „Zentrum für unerkannte Krankheiten“) wurde diese Sprechweise mitbedacht, erklärt Jürgen Schäfer während eines Rundgangs durch das Klinikum, „als Hommage an den deutschen Computerpionier Konrad Zuse“, der keine 100 Kilometer entfernt in der Rhön lebte und „ohne den wir heute keines der Geräte hätten, die die technische Grundlage unserer Arbeit bilden.“ Außerdem, weil es bundesweit kein anderes Zentrum gibt, das neben den „seltenen“ auch die „unerkannten“ Krankheiten im Namen führt. Zentren für seltene Erkrankungen (ZSE) gibt es 26, meistens ebenfalls angesiedelt an Unikliniken. Sie kümmern sich extrem erfolgreich um Patienten mit Leiden, die nur in einem von 2.000 Fällen auftreten und sind eng vernetzt. Doch auch sie haben das gleiche Problem wie die Marburger: Chronische Überlastung und Unterfinanzierung.

„Hinterher hört es sich immer so an, dass man denkt: Ja, natürlich, glasklare Sache. Aber der Weg dorthin ist oftmals gar nicht so leicht.“
Prof. Dr. Jürgen Schäfer

Der Bedarf an Einrichtungen wie dem ZusE lässt sich in einem Zimmer beobachten, dessen gesamte Wand von einem Regal eingenommen wird, das ausschließlich mit Ordnern vieler offener und weniger erledigter Fälle gefüllt ist. Zurzeit beläuft sich die Zahl ungefähr auf 6.000, Tendenz steigend. Anlaufstelle für Menschen, die in ihrer Ratlosigkeit anrufen, ist Frau Olischläger. Ihr Telefon klingelt pausenlos, der Stapel von Patientenakten neben ihr wankt bedenklich, einem Turm aus Jenga-Spielsteinen nicht unähnlich. „Die Fälle von heute“, sagt Frau Olischläger und schmunzelt mit einem Hauch von Fatalismus und Zuversicht zugleich. Alles machbar. Einer nach dem anderen. „Wir wüssten nicht, was wir ohne sie täten“, lobt Schäfer seine Meisterin der Logistik und erklärt, wieso sie den Anrufern erstmal immer zu erklären hat, dass Marburg für sie nicht der erste Schritt sein kann, sondern erst nach einer Vorstellung in einer heimatnahen Uniklinik Sinn hat. „Viele melden sich, ohne mit ihren Symptomen vorher bei jemand anderem vorstellig geworden zu sein.“ Dabei erkennen Hausärzte, Fachärzte und vor allem Krankenhäuser und Unikliniken in den Heimatregionen der Menschen die meisten Erkrankungen zuverlässig – wenn man denn hingeht. Sie müssen abklären, ob es sich bei den Leiden des Patienten nicht doch um etwas handelt, für das die medizinischen Detektive aus Marburg gar nicht benötigt werden. Selbst, wenn sie nicht herausfinden, was der Patient hat, liefert ihre diagnostische Vorarbeit wertvolles Datenmaterial, mit dem Schäfer und sein Team arbeiten können. Das Ziel lautet, dass die begrenzten Kapazitäten in Marburg wirklich nur den Menschen zugutekommen, denen nirgendwo anders geholfen werden kann.

Das Wir entscheidet

Kernstück der Arbeit von Schäfer und seinem Team sind die Teamsitzungen, die tatsächlich dem ähneln, was man in der Serie „Dr. House“ zu sehen bekommt, wenngleich ohne Zynismus und wesentlich freundlicher. Das ist kein Zufall, denn ZusE entstand aus einem Seminar Schäfers, in dem er einige der Fälle aus der TV-Serie mit seinen Studierenden erörterte. Diese Veranstaltung erzeugte nicht nur bei den angehenden Medizinern, sondern auch bei Schäfer selbst und seinen Kollegen eine dermaßen große Begeisterung, dass man sich fragte: Wieso nehmen wir uns die erfundene Abteilung für medizinische Diagnostik am erfunden Lehrkrankenhaus Princeton-Plainsboro nicht darin zum Vorbild, sich die schwierigsten Fälle mit den besten Köpfen gemeinsam anzusehen? Diese Synergien zu erzeugen kostet Zeit und Geld, denn so korrekt die Fälle bei „Dr. House“ auch dargestellt sind – eine hauptberufliche Tätigkeit mehrerer Ärzte als reine Diagnostiker ist die größte Fiktion der Serie. Jürgen Schäfers Projekt wurde nur umsetzbar durch eine Stiftungsprofessur der Dr. Reinfried Pohl-Stiftung, die ihm die Möglichkeit eröffnet, sich aus dem operativen Tagesgeschäft weit genug rausziehen zu können. Einmal gegründet, überrollten die Fälle die Klinik in einer Taktzahl, die den Medizinern in Zusammenarbeit mit der EDV so wenig Luft ließ, dass erst heute die Einrichtung eines komplett elektronischen Verfahrens der Patientenverwaltung in Gang kommt. Hierfür startete die Rhön Klinikum AG eine Kooperation mit dem Watson Health Anbieter IBM, deren Ziel es ist, das ZusE-Team bei der Aufarbeitung der mehr als 6.000 Hilfeersuchen mittels modernster Computertechnologie zu unterstützen. Angefacht wurde der Andrang auch durch ein Buch, das Schäfer 2015 auf den Markt brachte: „Der Krankheitsermittler. Wie wir Patienten mit mysteriösen Krankheiten helfen.“ Schon drei Jahre zuvor hatte er in „House-Medizin“ die Fälle der Serie erläutert, allerdings nicht als Bestseller für die Masse, sondern im Fachverlag Wiley-VCH. Der Ermittler- Titel im Großverlag Droemer Knaur hingegen erweckte eine breite Aufmerksamkeit. Populäre Wochenmagazine waren zu Gast in Marburg, Schäfer fand sich bei Markus Lanz wieder, der WDR drehte eine Reportage. Für Schäfer eine ambivalente Angelegenheit, weil er auf der einen Seite nicht möchte, „dass wir den Ansturm der Patienten gar nicht mehr bewältigen können und Hoffnungen wecken, die wir aufgrund der großen Zahl nicht erfüllen können“, auf der anderen Seite aber der Öffentlichkeit und Gesundheitspolitik ins Gewissen reden möchte, dass es in Deutschland mehr Mittel für die Disziplin reiner, tiefgründiger Diagnostik geben muss. „Wir sind eines der hochentwickeltsten Länder, haben die hellsten Köpfe und die besten technischen Möglichkeiten“, sagt er, „ein insgesamt tolles Gesundheitssystem, in dessen Krankenhäusern man bestens aufgehoben ist. Aber Menschen mit unklaren und seltenen Erkrankungen fallen leicht durch die Maschen. Hier braucht es Anlaufstellen, die sich kümmern. Das sind wir den Patienten schuldig.“ Möglich wäre es, denn „niemand von uns ist wie Gregory House aus der Serie ein einzigartiges, wahnsinniges Genie.“ Daher war Schäfer bei der Originalfassung seines Buches auch nicht ganz so glücklich darüber, mit dem Titel „Der Krankheitsermittler“ alleine auf dem Cover abgebildet zu sein. Personenkult in der Medizin schaudert ihn und entspreche nicht der Wahrheit. „Kein noch so guter Herzchirurg könnte ohne OP-Schwester operieren, und ohne gewissenhafte Reinigungskräfte ist kein Krankenhaus überlebensfähig.“ Für die Taschenbuchausgabe überzeugte er den Verlag vom Plural. Nun heißt das Buch „Die Krankheitsermittler. Wie wir Patienten mit mysteriösen Krankheiten helfen“, und auf dem Cover läuft das Team gemeinsam der Kamera entgegen.

Das UKGM

Das Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) ist ein Krankenhaus der „Maximalversorgung“ und deckt somit das gesamte Spektrum der modernen Medizin ab, bis hinein in Spezialgebiete wie die Augenheilkunde oder die Zahnmedizin. Das mit 9.600 Mitarbeitern und zwei Standorten (Gießen und Marburg) drittgrößte Universitätsklinikum Deutschlands wurde 2006 privatisiert und zu 95 Prozent von der Rhön-Klinikum AG übernommen. Das Land Hessen hält lediglich 5 Prozent. Neben herausragender medizinischer Forschung, Lehre, Diagnostik und Therapie kooperierte das UKGM mit der Industrie, um Produkte und Leistungen zu entwickeln, die in die Therapie der Patienten einfließen.

Das Gedankenpassspiel

Als eines von wenigen Magazinen dürfen wir heute an einer der berühmten Teamsitzungen teilnehmen; ohne Details der anonym besprochenen Fälle zu berichten, selbstverständlich. Der Sitzungsraum ist rund 15 Grad kühler klimatisiert als der Rest des Hauses. Die brütende, stehende Luft des tropischen deutschen Septembers bleibt vor den Fenstern. An einem Laptop sitzt Schäfers Mitarbeiter Dr. Tobias Müller und projiziert per Beamer die Webseite unseres Magazins auf die Wand. „Wir haben heute die Galore in unserer Galeere zu Gast“, scherzt Schäfer, als er die Kollegen über die Situation aufklärt und nach ihrer Zustimmung für Fotoaufnahmen fragt. Dr. Müller lacht und stellt das Bild auf ein Eingangsmenü zur Eingabe der Patientendaten um. Man sammelt sich, rückt Stifte und Notizbücher zurecht, es geht los. Dr. Julia Sharkova, eine erfahrene Internistin und Mitarbeiterin des ZusE, stellt den ersten Fall vor und diktiert die Symptome, die Müller rasend schnell eintippt. Links neben uns hat ein Arzt Fachbücher und Nachschlagewerke aus allen Bereichen vor sich ausgebreitet, als wäre dieses Sinnbild der Zusammenarbeit aller Disziplinen so geplant gewesen. Konzentriert blättert er in der schweren Kost, die Seiten eines Buches rascheln so dünn wie die eines Kirchengesangsbuchs. Alle anderen Mitglieder bevorzugen die zur Verfügung gestellten Tablets. Als sämtliche Symptome vorgetragen sind, beginnt die Diskussion. Dialoge, die ein Laie höchstens bruchstückhaft versteht. Thesen, Antithesen, Argumente, Gegenargumente und Schlussfolgerungen. Man muss an die berühmten Worte denken, mit denen Michelangelo die Bildhauerei beschrieben hat. Wolle er aus einem Felsblock einen Löwen erschaffen, müsse er doch nur „alles wegschlagen, was nicht nach Löwe aussieht.“ In beeindruckendem Tempo schlagen die Mediziner alles weg, was als Diagnose nicht in Frage kommt, bis sich die ersten Formen der möglichen Lösung abzeichnen. Unterstützt wird das hocheffiziente Brainstorming von einer Software, die Dr. Müller am Laptop öffnet: Isabel Health. In diese englischsprachige Datenbank gibt man die Symptome des Patienten ein, woraufhin das Programm auf der rechten Seite Vorschläge möglicher Erkrankungen macht. In einem der vier Fälle, die heute besprochen werden, steht die Lösung in der Liste der Vorschläge tatsächlich an dritter Stelle. Dass sie richtig ist, steht außer Frage, da es dem Team gelingt, diesen Fall zu lösen. „Es passt alles“, nickt der stellvertretende Leiter des ZusE, Dr. Andreas Jerrentrup nach nur 15 Minuten der Diskussion. Die Therapiemaßnahmen werden eingetragen; ein Mensch, dessen Symptomen sämtliche Ärzte zuvor ratlos gegenüberstanden, wird bald endlich erfahren, was ihm sehr wahrscheinlich fehlt. Für die anderen drei Fälle beschließt man weitere, dringend in die Wege zu leitende Untersuchungen. Ohne den überragenden menschlichen Geist mehrerer Top- Mediziner wäre die Software hilflos, aber beim Herausmeißeln der denkbaren Möglichkeiten hilft sie ungemein. Nach 90 Minuten Sitzung glaubt man Jürgen Schäfer zwar immer noch, dass derlei mit entsprechenden Mitteln auch an anderen Unikliniken möglich wäre, doch beweist das geniale gedankliche Passspiel seines Teams dennoch, dass es auch in der Medizin Abstufungen von der Kreisklasse bis zur Champions League gibt.

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