Gratis-Interview

Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen

Auf dem „Zauberberg“

Fotos
  • -
Leserbewertung

Das Uniklinikum Marburg, Teil des privatisierten Universitätsklinikums Gießen und Marburg (UKGM), liegt hoch auf den Lahnbergen in einem Waldgebiet. Bei der Anfahrt kommen einem Gedanken an den „Zauberberg“ von Thomas Mann, doch weder ist man hier der Auffassung, dass Krankheit den Menschen veredelt noch betreibt das Team um Professor Dr. Jürgen Schäfer Psychoanalyse. Die Frauen und Männer vom „Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen“ analysieren Symptome, denen kein anderer Mediziner die richtige Krankheit zuordnen konnte. Ursprünglich inspiriert durch die detektivische Diagnostik des fiktionalen Arztes „Dr. House“, bleiben die Mediziner von Marburg solange am Fall, bis sie die Lösung gefunden haben. Ein Besuch an einem Ort, den zu erleben jede TV-Serie überflügelt.

GALORE

Die Posthornschnecke und der böse Egel

Als Täter überführt wurde die Posthornschnecke. Ein putziges Wasserwesen mit dem zungenbrecherischen wissenschaftlichen Namen Biomphalaria glabrata. Nicht die hierzulande gezüchtete Variante für Gartenteiche, sondern ein Original aus Afrika. Sie kam offensichtlich als Beifang mit einer Lieferung Flussgarnelen nach Deutschland und teilte sich das Aquarium mit den gefragten Zierwesen. „Üblicherweise gehen bei professionellen Händlern Tiere aus diesen Gefilden nach dem Import mehrere Wochen in Quarantäne“, erklärt Prof. Dr. Jürgen Schäfer auf einem Drehstuhl im Labor, „aber mit den Direktbestellungen via Internet kommen solche Tiere – und damit auch die Parasiten – in wenigen Tagen hier an. Wir gehen davon aus, dass unser Patient sie sich auf einer Spezialmesse ins Haus geholt hat. Hier müssten Tierimporte deutlich besser überwacht werden.“ Der Patient hatte, kurz bevor seine Beschwerden begannen, mit einer Garnelenzucht begonnen und besaß mehr als ein Dutzend Aquarien. Nicht, dass er das bei der Konsultation verschwiegen hätte, aber: „Wer kommt schon direkt darauf, rätselhafte Entzündungen und chronische Darmbeschwerden mit solch einem Hobby in Verbindung zu bringen?“ Schäfer gibt zu: „Ich weiß, hinterher hört es sich immer so an, dass man denkt: Ja, natürlich, glasklare Sache. Aber der Weg dorthin ist oftmals gar nicht so leicht.“ Die Posthornschnecke ist Überträger der Bilharziose, einer tropischen Infektionskrankheit, die vom Pärchenegel ausgelöst wird. Kommt der Mensch mit den lebenden Larven dieser Süßwasser-Egel in Berührung, ist er infiziert. Die Tiere bohren sich durch die intakte Haut, sogar durch Latexhandschuhe, und wandern durch den Körper bis in den Darm oder gar in die Harnblase. „Da macht es keinen Unterschied, ob man die Hand direkt in den Nil oder in ein Aquarium hält, in dem die Posthornschnecke als Träger tausende dieser Larven verteilt hat.“ Allerdings macht es sehr wohl einen Unterschied, ob die Akte eines Patienten Reisen nach Afrika offenbart oder nicht. Blieb der Mensch daheim, wird verständlicherweise auch kein Tropeninstitut eingeschaltet. Berichtet er von seiner Garnelenzucht, ist das immer noch kein Grund, an Bilharziose zu denken, da Garnelen die Krankheit nicht übertragen. Dass ein blinder Passagier in Form einer Schnecke im feuchten Gepäck gewesen sein könnte, darauf muss man in der Tat erst mal kommen. Schäfer und sein Team kamen auf die Idee, da sie in einem selbst entwickelten Testsystem den Stuhl ihres Patienten untersuchten und darin so plötzlich wie unerwartet die Erbinformation von Schistosomen entdeckten. Somit stand der Verdacht einer Bilharziose im Raum. Jetzt galt es allerdings, ihn durch den direkten Nachweis von Eiern dieses Parasiten mit dem wissenschaftlichen Namen „Schistosoma mansoni“ auch nachweisen zu können. Das erforderte extrem aufwändige Stuhluntersuchungen, die das Team mehrere Wochen beschäftigten. Da der Egel nur in Afrika, dem Orient sowie in Süd- und Zentralamerika vorkommt, ist der Nachweis von Eiern im Stuhl bei gesunden Mitteleuropäern schwierig. Vor allem, wenn der Parasit in die Jahre kommt und kaum noch Eier produziert. Verteilen sich von diesen nur sehr wenige in einer sehr großen Menge Kot, muss man große Mengen Stuhl aufarbeiten, um wenigstens ein paar Eier anzukonzentrieren. Mit der üblichen winzigen Probe, die man als Patient mit dem Schäufelchen aus seinem Abort klaubt, ist es da nicht getan, weswegen zuvor niemand etwas finden konnte. Doch die Männer aus dem ZusE-Labor in Raum 5008 gaben nicht auf. Zwar konnten sie immer und immer wieder die DNA des Parasiten nachweisen, aber der definitive Beleg, das Parasiten-Ei selbst, blieb ihnen verborgen. „Der Kollege Ruppert ist dann eines Abends auf eine Promotionsfeier gegangen“, sagt Jürgen Schäfer und scherzt: „Wie das hier bei uns eben so läuft. Der Chef muss arbeiten, die Mitarbeiter gehen feiern.“ Dr. Volker Ruppert schmunzelt, während er auf dem Rechner das Bild des Egel-Eies sucht. „Auf der Feier traf er einen Kollegen aus Ägypten und erzählte ihm von dem ungewöhnlichen Fall. Der Mann, ein erfahrener Tierarzt und Parasitologe, war mit afrikanischen Egeln und Erregern natürlich vertrauter als wir und bot an, uns bei der Suche zu unterstützen. Er benutzte eine große Menge Stuhl, konzentrierte diese gezielt auf Parasiteneier an, und siehe da: Noch am selben Tag hatte er ein paar dieser verflixten Eier unter dem Mikroskop nachgewiesen. Sehr beeindruckend.“

Dr. Reinfried Pohl Stiftung

„Ganz allgemein bin ich der Meinung, dass es in unserer Zeit mehr denn je nötig ist, die Gemeinschaft sichtbar werden zu lassen. Wir sind groß geworden aus der Erkenntnis, dass es eine Gemeinschaftsstärke gibt.“ Diese Worte des Juristen und Gründers der ersten Vermögensberatungsgesellschaft Deutschlands, Dr. Reinfried Pohl, passen gut zur von seiner Stiftung ermöglichten Arbeit Jürgen Schäfers. Die Stiftung des 2014 verstorbenen Marburger Ehrenbürgers Pohl fördert gezielt die Arbeit der Phillips-Universität Marburg im Bereich Medizin und Rechtswissenschaften.

Die fatale Fallpauschale

Die Möglichkeiten, die das Team von Jürgen Schäfer allein im Labor hat, sind faszinierend. Die Molekularbiologen Dr. Volker Ruppert und Dr. Muhidien Soufi sowie die Ärztin Dr. Bilgen Kurt können in den erstaunlich überschaubaren, mit Laborgeräten vollgestellten Räumen bis ins kleinste Molekül DNA-Stränge analysieren. In einem mehrstufigen Verfahren werden diese durch die „Polymerase Chain Reaction“ (PCR) sozusagen „vervielfältigt“, um sie besser untersuchen zu können. „Auch wenn es sich um ein kompliziertes High-Tech-Verfahren handelt, ist es im Vergleich zur klassischen Analyse mit Kultur und Mikroskop wesentlich einfacher und zugleich empfindlicher“, erläutert Dr. Ruppert, laut Jürgen Schäfer zusammen mit Dr. Soufi „die Besten ihres Faches, die im Team unschlagbar sind.“

Papier, so dünn wie Bibelseiten. Nachschlagewerke der alten Schule.

Alles, was sie hier tun, kostet Zeit. Und Geld, was in diesem Fall deckungsgleich ist. „Wenn wir einen Patienten in unserer Ambulanz sehen, bekommen wir dafür etwa 40 Euro pro Patient pro Quartal“, sagt Schäfer. Der Standardtarif einer ambulanten Vorstellung, unabhängig davon, ob es sich dabei um zwei Minuten beim Hausarzt handelt oder um mehrtägige Überlegungen und aufwändige Untersuchungen. Einigermaßen fair honoriert würden im Gesundheitssystem derzeit vor allem operative Verfahren, auf die man leicht ein Preisschild kleben kann. Die Durchsicht von Akten, das Erheben einer aufwändigen Krankengeschichte, die Überprüfung von Medikamenten und deren Nebenwirkungen, Datenbankrecherchen und das Literaturstudium, kurz: das Denken schlechthin, werde hingegen nicht honoriert. „Künstliche Hüften können Sie im Stundentakt verbauen, das wird korrekt bezahlt. Aber wenn Sie sich mal eine Stunde zu einem extrem komplizierten Patienten Gedanken machen wollen, geschieht dies auf Kosten des Hauses“, sagt Schäfer. Und selbst, wenn es ans Handeln geht, offenbart das System Schwächen. Ab 2003 wurde schrittweise das „Diagnosis Related Groups“-System (DRG) zur Fallpauschalenabrechnung eingeführt; ein einheitlicher Modus für sämtliche Krankenhäuser mit wenigen Ausnahmen in der Palliativmedizin und bei psychischen Erkrankungen. Vor dieser Reform berechneten die Kliniken individuelle Pflegesätze pro Tag, egal wie schwer der Patient erkrankt und wie aufwändig seine Behandlung war. Kein faires System, das zu Recht geändert wurde. Heute geht es nicht nach Aufenthaltsdauer, sondern nach Behandlungsfall und Fallschwere. Was auf den ersten Blick gerechter klingt, zeigt in der Praxis fatale Auswirkungen für Unikliniken und Häuser der Maximalversorgung. Kliniken, die alle medizinischen Bereiche abdecken, leiden unter diesem System mehrfach. Schäfer: „Kleinere Einrichtungen ziehen sich aus der Versorgung finanziell problematischer Bereiche zurück. Schwerpunkte wie Rheumatologie, Endokrinologie oder medizinische Polikliniken werden nahezu abgeschafft, aber auch Kinderkliniken, Haut-, HNO- und Augenkliniken leiden unter diesem System. Selbst bei der unmittelbaren Patientenversorgung offenbart es Schwächen. Schäfer gibt ein Beispiel: „Kommt ein Patient nach einem Sturz mit gebrochener Hüfte zu einer Hüft-OP in eine Uniklinik mit Maximalversorgung, bekommt die Klinik von der Kasse zwar Geld für die Hüftbehandlung. Erleidet der Patient aber während seines Aufenthalts einen Schlaganfall oder eine Lungenentzündung, werden diese Zusatzkosten nicht adäquat abgedeckt.“ Mit anderen Worten: Das Abrechnungssystem ist viel mehr als bloß ein bürokratisches Verwaltungswerkzeug. Es wird, so Schäfer, „zum strukturbildenden Element in unserem eigentlich tollen Gesundheitssystem. Das DRG-System hat nie zu den geplanten Einsparungen geführt. Es nimmt im Gegenteil direkten Einfluss darauf, dass kleinere Spezialkliniken aufblühen und die Uni-Kliniken – unabhängig von der Trägerschaft – finanziell hart am Wind segeln. Was fatal ist, da nur in ihnen Zeit und Raum für Forschung, Lehre und komplizierte Fälle ist. Und für eine so außergewöhnliche Einrichtung wie unser Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen.“ Jürgen Schäfer seufzt und schüttelt den Kopf, während Dr. Ruppert bereits die Bilder weiterer Bakterien und Würmer sucht. „Eigentlich möchte ich über diese politisch verqueren Dinge gar nicht sprechen. Aber es muss uns doch zu denken geben, wenn sich studierte Medizinerinnen und Mediziner weigern, das Gesundheitsministerium zu führen und dafür lieber Verteidigungsministerin oder Wirtschaftsminister werden. Was ein fachkundiges Ministerium alles für unsere Patienten bewegen könnte… da läuft etwas verkehrt. Ich möchte lieber über unser wunderbares Fach reden, aber ich muss das erläutern, damit den Menschen klar wird, wieso sich nur so wenige Kollegen den Luxus erlauben können, sich Zeit für das zu nehmen, was wir hier tun. Und dass sich beim DRG-System etwas ändern muss, wenn wir unsere Universitäten nicht völlig verheizen wollen.“

Frau Olischläger bei der Arbeit. Im Vordergrund der Stapel der Anfragen eines Tages.

Als GALORE-Abonnent*in erhalten Sie nicht nur sechs Ausgaben im Jahr frei Haus und eine Prämie, sondern auch kostenlosen Zugang zu unserem Online-Archiv mit mehr als 1100 Interviews - darunter auch die jeweils aktuellen.

Jetzt GALORE abonnieren

Seite 1 von 3