Praxis ohne Grenzen

Mai 2017 / Seite 2 von 3

Der Mundraum: Ein Indiz für Armut

Kommt ein Patient zum ersten Mal zu ihm, schaut er ihm häufig erst mal in den Mund: „Der Zustand der Zähne verrät viel über den Zustand der sozialen Schieflage eines Patienten“, weiß Dr. Denker. Ein typisches Beispiel dafür sitzt heute auf der anderen Seite seines Tisches: ein freier Grafiker, Mitte 40. Von der Erscheinung her käme man nie auf die Idee, dass er ein finanzielles Problem hat: Er trägt modische Markenklamotten, an den Füßen teure Sneaker. Während er im Wartezimmer auf seinen Termin wartet, tippt er auf ein iPhone ein.

Doch als er den Mund öffnet, sieht man ein Kriegsgebiet. Ihm fehlen vier Kronen, an ihrer Stelle stecken ein paar Zahnreste, die er sich fünf, sechs Mal am Tag reinigen muss – „sonst läge ich abends garantiert mit höllischen Zahnschmerzen im Bett.“ Ganz zu schweigen von der deutlich gelben Farbe der restlichen Zähne, bedingt durch starkes Rauchen. „Ich bin schon vor langer Zeit auf Selbstgedrehte umgestiegen, Filterkippen kann ich mir nicht leisten“, erzählt er. „Nur machen die halt die Zähne gelber. Aber zumindest ist das Selbstdrehen heute kein Indiz mehr für sozialen Abstieg. Im Gegenteil, es ist ja zum Glück derzeit wieder hip, gerade in der Kreativwirtschaft.“ Eine Sache, die ihm sehr wichtig ist: das Gesicht wahren. Nach außen hin den Eindruck vermitteln, „dass alles cool ist. Das allein kostet manchmal ganze Arbeitstage, mal abgesehen von der dabei investierten Energie: so zu tun, als sei man schrecklich busy. Tatsächlich aber versucht man, genug Geld aufzutreiben, um sich die Zugfahrt zu einem Kundenmeeting leisten zu können.“

Dr. Denker suchte er nun auf, weil er vor einiger Zeit einen schweren Fahrradunfall hatte. Zwar fand er gleich am nächsten Tag einen Arzt, der ihn auch ohne ausreichenden Versicherungsschutz oberflächlich untersuchte, röntgte und außer schweren Prellungen und Bänderdehnungen keine schlimmeren Schäden feststellen konnte. Drei Wochen harte Schmerzmittel mussten den Rest regeln.

Und doch hat der Patient nun dauerhafte Beschwerden, von massiven Rückenverspannungen über wiederkehrende Kopfschmerzen bis hin zu einer aus seiner gesamten Lebenssituation resultierenden Antriebslosigkeit: „Dieser Unfall war irgendwie sinnbildlich für meinen Zustand: Man ist brutal angezählt, kommt nicht mehr hoch, weil man sich fragt: wofür noch? Ich fürchte, ich bräuchte eine Therapie, um das in den Griff zu kriegen. Aber die bekäme ich vermutlich nicht mal dann bezahlt, wenn mein Versicherungsschutz noch bestehen würde.“ Selbst hier kann Dr. Denker indes Positives in Aussicht stellen: Zu dem Team aus mittlerweile über 70 Ärzten und medizinischem Fachpersonal, das die „Praxis ohne Grenzen“ ehrenamtlich unterstützt, gehören neben vielen Fachärzten auch Psychologen und Psychiater.

Ein typischer Patient

Sich im Detail porträtieren lassen möchte der Grafiker nicht, „ich arbeite selber im editorialen Bereich.“ Aber einen kurzen Abriss seiner Geschichte gibt er dann doch: „Seit 15 Jahren bin ich selbständig und habe für zahlreiche Magazine und Corporate Publishing Agenturen als Freelancer gearbeitet. Lange lief es gut – bis die Krise der Printbranche nach und nach auch bei mir ankam. Viele Kunden reduzierten die Anzahl ihrer Mitarbeiter, insbesondere bei Fotos und Grafik wurde eingespart. Andere haben dich über Monate weiter beschäftigt, um etwas Geduld bei der Bezahlung gebeten, um dir dann zu sagen: „Sorry, wir haben kein Geld mehr.“ Es gibt Magazine, bei denen mehr als 5.000 Euro an Honoraren offen sind. Die, von denen man noch Aufträge erhält, haben, seit ich mich selbständig gemacht habe, die Honorare nicht ein Mal angehoben, meist eher das Gegenteil – bei ständig steigenden Unkosten. So kam eins zum anderen. Und irgendwann hat dich dann halt das Finanzamt an der Gurgel und dreht dir den Hahn zu. Spätestens da war es vorbei mit den PKV-Beiträgen.“ Bislang habe er die Privatinsolvenz noch abwenden können, „weil ich kämpfe. Aber die monatlichen Verbindlichkeiten bei Gläubigern fressen alles auf.“ Im Prinzip lebe er von dem sukzessiven Abverkauf rarer Comics über Ebay. In besseren Zeiten hat er sich eine große Sammlung zugelegt, „die ich nun Stück für Stück veräußere. Bei jedem einzelnen Exemplar tut es ein bisschen weh, denn ich war sehr stolz auf meine Sammlung.“ Nun bringen ihn zwei, drei verkaufte Comics über das nächste Wochenende.

Kein Einzel- sondern Regelfall

Zwei bedauerliche Einzelfälle? Keineswegs – wie man schnell erfährt, wenn man sich mit Dr. Denker unterhält. Geschichten wie die hier geschilderten sind vielmehr die Regel dessen, was ihm Woche für Woche in seiner Praxis begegnet. Genaue Zahlen dazu sind schwer zu ermitteln, nicht zuletzt aufgrund der Scham vieler Betroffenen, sich mit ihrer finanziellen Misere zu outen; viele vermeiden selbst im schlimmsten Krankheitsfall den Gang zum Arzt, da man insbesondere in Deutschland eben schnell als Totalversager gilt, wenn die eigene Existenz aus den ökonomischen Fugen gerät.

Das Bundesgesundheitsministerium spricht von etwa 80.000 nicht ausreichend krankenversicherten Personen in Deutschland, Dr. Denker geht nach seinen eigenen Erfahrungen im Kreis Bad Segeberg mindestens von der zehnfachen Anzahl aus – was einem Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung entspräche. „Wahrscheinlich liegt die Dunkelziffer aber bei weit mehr als zwei Millionen“, sagt er, „weil man von vielen Fällen eben niemals etwas mitbekommt.“

Ganz zu schweigen von den Kindern, die ihm die größten Sorgen bereiten. „Durch das System der Familienversicherungen sind Tausende von Kindern in Deutschland nicht krankenversichert – sobald der Vater die Beiträge nicht mehr bezahlen kann, steht die ganze Familie ohne Schutz da.“ Auch deshalb gäbe es immer mehr alleinerziehende Mütter und Väter, die seine Praxis aufsuchten. „Da fehlt es oft selbst an den grundlegendsten Impfungen und Untersuchungen, die für das Wohl des Kindes absolut unerlässlich sind.“

So schön das also klingt mit der deutschen Versicherungspflicht für den Krankheitsfall – was nützt das, wenn der Einzelne das nicht mehr bezahlen kann? Insbesondere im Kontext des weltweit einmaligen „dualen Systems“ aus gesetzlicher und privater Krankenkasse? Warum dieses System einst etabliert wurde – mal abgesehen von der ursprünglichen Idee, auch im Gesundheitssystem mehr Wettbewerb und individuelle Anpassungsmöglichkeiten zu gewährleisten – kann niemand so recht begründen; was man aber weiß, ist, dass es heute zahlreiche Probleme hervorruft.

Beginnend mit der absurden Gesetzgebung im Bereich der Sozialversicherungen: Warum etwa darf ein vormals privat Krankenversicherter, der wieder eine Festanstellung findet, nicht in die gesetzliche Krankenkasse zurückwechseln? Oder einer, der in den Notfall-Tarif abrutschte, nach finanzieller Erholung nicht zurück in den Regeltarif (denn hier gilt tatsächlich: einmal notversorgt, immer notversorgt)? Warum besteht nicht die Möglichkeit für einen Freiberufler, ähnlich wie bei flexiblen Bankendarlehen auch die Beitragssätze – und damit verbunden auch die Leistungen der Krankenkasse – an die jeweilige finanzielle Situation anzupassen? Warum ist, ganz allgemein, das System der Sozialversicherung in Deutschland derart starr, ja geradezu starrsinnig – und damit in entscheidenden Punkten inhuman? Warum deckt ein Notlagen-Tarif nur akute Notfälle und Schmerzzustände ab und lässt es zu, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen vor sich hinsiechen und schlimmstenfalls sogar versterben? Und dies alles in einem Land, das sich rühmt, ein internationaler Vorreiter der sozialen Absicherung zu sein? Und per se eines der reichsten Länder der Welt ist?

Probleme, Probleme

So sind all die politischen Aktionen von stets vollmundig „Gesundheitsreform“ genannten Bestrebungen nichts weiter als Flickwerk und oberflächliche Kosmetik, um die schlimmsten Missstände zu beseitigen. Für eine tatsächliche Reform müsste das gesamte System überarbeitet und neu strukturiert werden, und das wird so schnell nicht geschehen, wenn überhaupt. Schon weil mit den auch politisch wirkmächtigen Krankenkassen und Ärztekammern – und erst recht angesichts der kaum noch zu bändigenden Pharmalobby – zahlreiche Entscheider mit am Tisch sitzen, die überhaupt kein oder zumindest ein sehr widersprüchliches Interesse an grundsätzlichen Reformen haben. Selbst die kleinsten Schritte sind schwierig, seien sie auch noch so logisch; beispielsweise die Minderung des Zinssatzes auf ausstehende Krankenkassenbeiträge.

Sogar Jens Spahn, vormals gesundheitspolitischer Sprecher der CDU, bezeichnete den von den Krankenkassen veranschlagten Zinssatz von fünf Prozent pro Monat auf die gesamte Schuldsumme als „regelrechten Wucher“. 2013 erfolgte – nicht zuletzt auf Dr. Denkers Engagement hin – auch eine Anpassung des Zinssatzes, auf nun zwölf Prozent per anno. Doch was nützt dieser Zinssatz egal welcher Höhe, wenn schon die eigentlichen Beiträge nicht bezahlt werden können? Das einzige, was dabei stetig steigt, ist die Schuldenfalle des Einzelnen – die eben auch immer mehr Privatpersonen in die Insolvenz treibt. 2011 übersprang die Zahl der sogenannten Verbraucherinsolvenzverfahren erstmals die magische Hürde von mehr als 100.000 Fällen pro Jahr, Tendenz weiterhin rapide steigend.

Auch an dieser Front kämpft Dr. Denker bundesweit, steht in regelmäßigem Kontakt mit politischen Vertretern – und hat von seinen „10 Forderungen der Praxis ohne Grenzen“ (siehe Kasten) auch schon einiges erreicht. Und doch wirkt etwa eine für einen Sozialstaat wie Deutschland überfällige Forderung der kostenlosen Krankenversicherung für Kinder wie ein besonders groteskes Bonmot aus „Wünsch dir was“. Nach nunmehr knapp siebenjähriger Erfahrung mit seiner „Praxis ohne Grenzen“ prognostiziert Dr. Denker, dass immer mehr Menschen in Deutschland durch Krankheit in die Armut getrieben werden, und wir sprechen hier nicht von der allseits diskutierten Altersarmut, sondern von Personen, die, wie unsere Beispiele, eigentlich mitten im (Arbeits-)Leben stehen.

„Als ich die ersten Male bei Krankenhäusern anrief und um einen Kostenvoranschlag für eine OP bat, damit wir hier planen können, wurde ich für vollkommen verrückt erklärt“, berichtet er schmunzelnd. „Es hieß einfach: So etwas machen wir nicht. Ich musste daraufhin zahllose Telefonate führen, nur um überhaupt einen Kostenvoranschlag zu bekommen – geholfen war dem betroffenen Patienten damit noch lange nicht. Inzwischen haben sich einige Krankenhäuser an meine Anrufe gewöhnt und kommen mir oft im Rahmen ihrer Möglichkeiten entgegen.“

Dr. Denker hat daher den so klaren wie wahren Grundsatz formuliert: „Krankheit macht arm – Armut macht krank.“ Einmal in diesem Kreislauf, gibt es für den Betroffenen kaum noch ein Entrinnen. Bei Krankenhaus-Aufenthaltskosten von 500 Euro pro Tag für ein normales Bett und über 2.000 Euro pro Tag für einen Platz auf der Intensivstation kann sich jeder ausrechnen, wie schnell eine notwendige Behandlung unbezahlbar wird.

Selbst das ficht Dr. Denker nicht an. Natürlich muss die „Praxis ohne Grenzen“ weiterhin sparsam mit glücklicherweise recht luzide fließenden Spendengeldern umgehen; doch wenn einmal ein Krankenhaus-Aufenthalt oder eine Operation für einen seiner Patienten unumgänglich ist, hängt sich Dr. Denker stundenlang ans Telefon und bemüht sich darum, ein Krankenhaus zu finden, das die notwendigen Behandlungen zu einem fairen und für die Praxis bezahlbaren Preis übernimmt.

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