Gratis-Interview  Praxis ohne Grenzen

Praxis ohne Grenzen

Zu arm, um krank zu sein

Autor/in
Fotos
  • Matthias Oertel
Leserbewertung

„Gesundheit ist ein Menschenrecht“ heißt es in der 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Menschenrechts-Charta. Nicht zuletzt aufgrund dieses Postulats herrscht in Deutschland seit Jahren die Krankenversicherungspflicht. Dennoch rutschen immer mehr Menschen auch hierzulande durch das soziale Netz. Dabei ist aber vordergründig nicht die Rede von Flüchtlingen, Obdach- oder Arbeitslosen – es geht um den zusehends verarmenden Mittelstand. Um diese Klientel kümmert sich der Bad Segeberger Arzt Dr. Uwe Denker mit seiner Initiative „Praxis ohne Grenzen“. Er behauptet: „Wir steuern auf eine Katastrophe zu – eine schleichende Katastrophe unter Ausschluss der Öffentlichkeit.“ Wir haben seine Arbeit sowie seine Patienten unter die Lupe genommen.

GALORE

Eigentlich ein schönes Leben

Klaus-Peter K. ist 67, wirkt aber auf den ersten Blick höchstens wie Mitte 50. Der Teint ist gesund, das Gesicht zeigt kaum Falten, außerdem lächelt er viel. Dass dieses Lächeln eher ein Weglächeln ist als ein unverstellter Ausdruck der Freude, das überspielt er zunächst gut. Erst wenn er sich etwas schwerfällig erhebt und mit kleinen, unsicheren Schritten das Café im Hamburger Stadtteil St. Georg durchmisst, sieht man, dass es dem Diplom-Kaufmann offenbar nicht gut geht. Seit vielen Jahren habe er schweren Diabetes, gepaart mit kontinuierlich zunehmendem Übergewicht, wird er später berichten. Außerdem habe er lange mit dem Noro-Virus zu kämpfen gehabt, auch habe er eine schwere Darmkrebs-Erkrankung überwinden müssen.

„Verglichen mit diesen Ereignissen geht es mir aktuell sogar vergleichsweise gut“, sagt er – und das, obwohl auch jetzt kaum eine Woche vergehe, „wo ich nicht bei irgendeinem Spezialisten sitze, um Werte überprüfen zu lassen. Mit Ärzten in Hamburg kenne ich mich aus“, lacht er – wieder dieses Lachen, das eigentlich bitter sein müsste, aber doch sehr freundlich wirkt. „Falls Sie mal irgendwas haben, egal was: Ich kann Ihnen garantiert den optimalen Arzt für Ihr Problem empfehlen.“ Trotz dieser gesundheitlichen Einschränkungen liebt K. das Leben. Lange hatte er auch allen Grund dazu. Nach dem Abitur schloss der Süddeutsche ein Studium der Wirtschaftswissenschaften ab, arbeitete viele Jahre im Einzelhandel, „bevor ich mich in Richtung Immobilien orientiert habe. Das hat mich immer interessiert: Dieses Arbeiten mit Menschen, auch diese Freude, wenn man einer jungen Familie eine schöne Wohnung vermitteln kann. Da habe ich mich immer sehr mitgefreut.“

Das Angebot der „Praxis ohne Grenzen“ wird nicht zuletzt von Menschen wie Klaus-Peter K. genutzt, die eigentlich dem Mittelstand zugehörig sind.

Bei Unilever in Hamburg machte er nach einem weiteren Zusatzstudium sodann Karriere als Immobilien-Kaufmann, bis er eine Hierarchiestufe erreicht hatte, wo es irgendwie nicht weiterging. „Da habe ich den Schritt in die Selbständigkeit gewagt. Den Gedanken fand ich immer toll: der eigene Herr zu sein und alles, was man tut, auch für die eigene Tasche zu erwirtschaften.“ Es lief danach nicht immer rund, es gab auch Durststrecken, nicht zuletzt wegen seiner zahlreichen Erkrankungen. Doch als gebürtiger Schwabe konnte er gut rechnen. Mal schlug er sich so durch, mal hatte er einen soliden Überschuss am Ende des Jahres und konnte sich etwas gönnen. Geprotzt habe er nie, sagt er, „ich kann gut mit Zahlen. Ich habe mir nur hin und wieder etwas zugelegt, was das Leben lebenswert macht.“ Etwa einen Rassehund, die große Liebe von Herrn K., der schon sehr lange keine Partnerin mehr an seiner Seite hat.

Sozialer Abstieg kann schnell gehen

Dann kam die Finanzkrise, spätestens mit der Insolvenz von Lehmann Brothers im September 2008 „war der Immobilienmarkt auch in Deutschland tot“, wie er berichtet. Keiner kaufte oder verkaufte mehr, K.s Auftragsbücher leerten sich zusehends. Und wenn doch mal ein Geschäft zum Abschluss kam, dann unter deutlich schlechteren Bedingungen. K. erzählt von dem einen großen Deal, den er um diese Zeit betreute: Es ging um eine Verhandlungssumme von sechs Millionen Euro rund um ein zu verkaufendes Mietshaus. K. investierte viel Zeit und auch privates Geld in dieses Geschäft, am Ende einigten sich die Parteien auf einen Verkaufspreis, der gerade einmal halb so hoch lag wie veranschlagt. „Letztlich haben alle an diesem Deal irgendwie verdient, nur ich nicht. Ich ging komplett leer aus. Sicher, ich hätte klagen können, aber einen solch langwierigen Prozess hätte ich mir eh nicht leisten können.“ Stattdessen: Monate der Arbeit für nichts. Doch die Kosten liefen weiter. Und überstiegen bei Weitem K.s Mittel. Er konnte die laufenden Zahlungen nicht mehr decken, darunter auch seine private Krankenversicherung. Was angesichts seines gesundheitlichen Zustands schnell zum echten Problem geriet.

Heute ist K. in der Privatinsolvenz und lebt nach Abzug aller Kosten von 300 Euro – pro Monat, inklusive Kleidung und Lebensmitteln. Seine Rente wird von der Miete aufgefressen, auch seine Monatskarte für den Nahverkehr und sein Handy muss er selber bezahlen. Sein Hund ist schon vor einigen Jahren gestorben, „einen neuen könnte ich mir nicht leisten“. Überhaupt, sagt er, erneut lächelnd, „lassen sich damit keine großen Sprünge machen. Versuchen Sie mal, mit einem solchen Budget jemanden kennenzulernen. Man will ja nicht bis ans Lebensende allein bleiben.“

Lebensmut behalten

Woraus zieht er sich heute seine Freude? „Ach, es gibt ein paar Orte in Hamburg, wo man für zwei, drei Euro richtig gut zu Mittag essen kann. Das ist immer schön. Ansonsten bleiben mir die Abende vor dem Fernseher. Das zumindest kostet ja nicht viel.“ Im Urlaub war K. schon ewig nicht mehr. Als wir ihn danach fragen, erzählt er von einem „tollen Trip in die USA“. Erst später stellt sich heraus, dass dieser Trip in den 90er-Jahren stattgefunden hat. Wie viele, die sein Schicksal teilen, lebt K. in seinen Erzählungen in der Vergangenheit. Die Erinnerung an bessere Zeiten ist das, was sie aufrecht hält. Der Gedanke ist: Es war ja mal alles schön. Und deshalb kann das auch in der Zukunft vielleicht noch mal so kommen.

Hat er selber Fehler gemacht? Ist er zumindest zum Teil verantwortlich für sein Scheitern? „Darüber habe ich natürlich viel nachgedacht, Zeit dazu hatte ich ja“, sagt er. „Den einzigen Vorwurf, den ich mir machen muss, ist eine zu große Gutmütigkeit. Ich habe immer angenommen, dass alle Teilhaber eines Geschäftes das gleiche Ziel verfolgen wie ich, dass nämlich alle daran verdienen. Ich bin ja ein Menschenfreund. Man sagt gern, dass Makler die Bluthunde der Geldwirtschaft sind. Wenn das so ist, dann war ich so eine Art Gegenentwurf. Ich war oft einfach zu gutgläubig. Jetzt sieht man, was man davon hat.“

Und plötzlich wird seine Miene doch sehr traurig. Und auch die des Gesprächspartners, wenn man beobachtet, wie K.s Blick immer wieder auf sein uraltes Handy fällt. Das hat vor ein paar Jahren noch ständig geklingelt, man sieht die Hoffnung in K.s Augen, dass mit dem nächsten Anruf doch noch mal ein großer Deal hereinflattert – schon weil das Sozialamt von ihm trotz seiner Lebensbedingungen erwartet, dass er weiter arbeitet. Diese Hoffnung auf private Konsolidierung gibt er nicht auf, sagt er, „sonst würde das alles ja wenig Sinn machen. Ich habe letztlich noch ein großes Ziel: Die Insolvenz überstehen und aus eigener Kraft noch mal nach oben kommen. Wenn mir das gelingt, dann endet mein Leben nicht mit dem Eindruck des Versagens. Dafür stehe ich jeden Morgen auf.“ Dass er schon rein physisch wieder dazu in der Lage ist, verdankt er einer Person: Dr. Denker von der „Praxis ohne Grenzen“.

Ein Ort für Bedürftige jeder Art

Ortswechsel. Der Kirchplatz in Bad Segeberg, etwa 45 Autominuten nördlich von Hamburg, sieht exakt so aus, wie man sich den Ortsmittelpunkt einer hübschen norddeutschen Kleinstadt vorstellt. Es ist ein Mittwochvormittag, der Platz ist belegt von reichhaltig bestückten Marktwagen, die Gemeinde kauft für die Woche ein. 20 Euro am Gemüsestand, 25 beim Käsewagen, gern auch noch zwei Rumpsteaks für den Abend, Kosten: 18 Euro. Keinen dieser Einkäufe könnten sich die Patienten von Dr. Uwe Denker leisten, der im Schatten der Kirche, in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Pfarrhauses, das Denker von der Diakonie angemietet hat, die erste „Praxis ohne Grenzen“ etabliert hat.

Mittwochs ist auch der Tag der Sprechstunde in Dr. Denkers „Praxis ohne Grenzen“, die er vor allem aus einem Grund eröffnete: Damals hatte er das Höchstalter von 68 Jahren für frei praktizierende Ärzte erreicht, er musste seinen Anteil an einer gut laufenden Gemeinschaftspraxis an seine Tochter abgeben, fühlte sich aber noch viel zu jung für den Ruhestand. Er sah Bedarf und wusste, dass selbst in Deutschland, wo seit Jahrzehnten die Krankenversicherungspflicht gilt, Menschen ohne ausreichenden Versicherungsschutz leben.

Also gründete er 2010 die „Praxis ohne Grenzen“, die man auch umschreiben könnte mit „Praxis ohne Kasse“. Der Gedanke: Jeder wird behandelt, der kommt – ungeachtet seiner sozialen Stellung. Hat er keinen oder nur einen unzureichenden Versicherungsschutz, ist er hier richtig. Man versucht nach Kräften, ihm zu helfen, ihn mit Medikamenten ohne Zuzahlung zu versorgen, gegebenenfalls an einen Spezialisten zu vermitteln, der ebenfalls unentgeltlich behandelt – und im echten Ernstfall eines notwendigen Krankenhaus-Aufenthaltes sogar die dabei entstehenden, horrenden Kosten zu übernehmen. Es wird auch nicht überprüft, ob ein Patient tatsächlich mittellos ist – das verbietet der Respekt vor der Würde derer, die sich in die Praxis trauen. Man geht einfach davon aus, dass kein Missbrauch betrieben wird. „Und tatsächlich habe ich bis heute nicht ein Mal das Gefühl gehabt, dass sich da jemand medizinische Versorgung oder Medikamente erschleicht. Wer zu uns kommt, ist wirklich bedürftig“, so Denker.

Schon bei seiner ersten Sprechstunde, damals noch in einem Besprechungsraum der AWO, war er selber überrascht von der Klientel, die zu ihm kam: „Ich hatte damit gerechnet, dass Obdachlose oder Flüchtlingsfamilien mich aufsuchen“, erzählt er. „Stattdessen kamen fast ausschließlich Mittelständler – Schreiner und Metzger, Journalisten und Fotografen, kurz: alle Berufsstände, in denen man viel Freiberuflichkeit findet.“ Sie alle waren in finanzielle Schieflage geraten, hatten die monatlichen Zahlungen an ihre Krankenversicherung nicht mehr leisten können, wurden heruntergestuft in den sogenannten „Notlagen-Tarif“, der aber nicht einmal das Allernötigste abdeckt. Selbst eine schwere Krebs-Erkrankung zählt beispielsweise nicht dazu.

Als GALORE-Abonnent*in erhalten Sie nicht nur sechs Ausgaben im Jahr frei Haus und eine Prämie, sondern auch kostenlosen Zugang zu unserem Online-Archiv mit mehr als 1100 Interviews - darunter auch die jeweils aktuellen.

Jetzt GALORE abonnieren

Seite 1 von 3