Matthias Politycki

Matthias Politycki

„Literatur kann ein Bewusstsein dafür schaffen, dass nichts so einfach ist, wie es aussieht.“

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Zur Person

25. Februar 2023, Hamburg. Vor zwei Jahren hat Matthias Politycki die verengten Debattenräume in Deutschland verlassen, um in Wien zur Freude an der Sprache und am Schreiben zurückzufinden. Zum Gespräch sitzt er vor den Regalen der alten Hamburger Heimat, wo seine Frau weiterhin ihr Literatur- und Pressebüro betreibt. Der Brockhaus steht als echtes Druckwerk ebenso bereit wie zahlreiche Klassiker. Aus dem Off hebt der Autor eine seiner Notizkladden ins Bild, die sich während einer vierwöchigen Reise durch Äthiopien gefüllt haben, in Begleitung derselben Freunde, die mit ihm bereits den Trip nach Tansania unternahmen, aus dem der Vorgängerroman des aktuellen Buches entstand. Eng geschriebene Notizen auf den Seiten der Kladde, ausführlichere Szenen in beigelegten Blättern. Die Grundlage des Porträts einer Gesellschaft, die sich durchaus als Allegorie auf unsere lesen lässt.

Matthias Politycki, nach nur wenigen Seiten Ihres Romans befindet man sich bereits vollständig in einer anderen Welt. Da trinken Männer und Jungen frisches Blut aus der Halsschlagader eines Rindes, haben mehrere Frauen und freuen sich auf den Ankauf günstiger Waffen aus dem Nachbarland, auf dass sie, Zitat, „nach alter Väter Sitte Rinder rauben, Dörfer plündern oder Blutrache ausüben“ können. Wagt es eine Frau, sich so selbstbewusst und eigensinnig zu geben wie die Protagonistin Natu, in die sich Josef Trattner, die Wiener Hauptfigur des Romans, verliebt, erleidet sie eine gewaltsame Strafe.

Wie bei den meisten meiner Romane begann es auch diesmal mit einem ganz konkreten Erlebnis, tief im Süden Äthiopiens, im Omo-Tal, das meine beiden Freunde und mich regelrecht schockiert hat. Eine Frau kam auf mich zu, umarmte mich wortlos und ging mit mir ein Stück Weg, bis sie von unserem einheimischen Aufpasser verjagt wurde. Wenig später wurde sie vor aller Augen mit Stockhieben für ihr Verhalten gezüchtigt. Als Fremde waren wir nicht befugt einzugreifen. Ich lag die ganze Nacht wach, am nächsten Morgen war mir klar, dass ich den Anfang meines nächsten Romans erlebt hatte. Von da an habe ich jeden Tag noch mehr Notizen gemacht als ohnehin schon. Nach der Heimkehr habe ich ethnologische Fachliteratur gelesen, um meine persönlichen Eindrücke abzugleichen. Dabei wurden zwar viele meiner Fragen beantwortet, es taten sich jedoch auch immer neue auf – keine allzu schlechte Ausgangsbasis für einen Roman.

Herz und Seele der Erzählung bilden allerdings Ihre Notizen vor Ort. Sie sprechen alle Sinne an, bringen Sitten, Gebräuche und menschliche Dynamiken ultrarealistisch nahe.

Mitschreiben ist für mich eine Art Selbstschutz, ohne einen Stift in der Hand würde ich an den entscheidenden Punkten meiner Reisen schlichtweg überwältigt werden. Ich schreibe nicht freiwillig, schon gar nicht aus Freude am Erzählen. Ich schreibe nur dann, wenn wirklich nichts anderes mehr hilft. Schreiben ist so auch immer Augenzeugenschaft für die, die nicht selber dabei waren. Interessanterweise gleicht das Lektorat neuerdings das, was ich geschildert habe, mit den Darstellungen im Internet ab – und nicht selten zieht es dann meine Schilderung in Zweifel. Dabei wissen wir doch alle, dass etwa Bilder veraltet oder geschönt sein können und dass Menschen für einen Dollar gern ein Lächeln zeigen, während sie einem Fremden ansonsten, sagen wir mal, reservierter entgegentreten.

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