Christian Baron

Juli 2022 / Seite 2 von 2

Wird ein gewisser Grad an Armut von der Politik in Kauf genommen?

Ich würde es anders ausdrücken: Es ist der politische Wille, dass ein bestimmtes Maß an Armut existiert. Nur garantiert nicht in dem Ausmaß, wie es uns noch bevorsteht. Selbst diejenigen, die Marx und Engels nicht gelesen haben und Brecht auch nicht, verstehen trotzdem intuitiv die Zusammenhänge. Schröders Agenda 2010 war darauf ausgerichtet, diejenigen zu disziplinieren, die vielleicht doch mal auf die Idee kommen könnten, sich wieder gewerkschaftlich zu organisieren. Ihr seid nur ein Jahr ALG 1 von Hartz-IV entfernt. Das gilt für euch alle. Überlegt euch, was ihr macht. Das ist leider die Funktion, die Armut hat.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Ihrem autobiografischen Roman „Ein Mann seiner Klasse“ gemacht, in dem Sie Ihr Aufwachsen im Arbeitermilieu Kaiserslauterns und die ambivalente Beziehung zu Ihrem gewalttätigen Vater schildern? Ist es möglich, mit einer persönlichen Geschichte eine Debatte über die größeren politischen Zusammenhänge anzustoßen?

Beim Schreiben war mir das gar nicht so bewusst. Dass im Titel des Buches der Klassenbegriff vorkommt, war für mich selbstverständlich, schon wegen der literarischen Mehrdeutigkeit. Ich wollte einfach meine Geschichte erzählen und mich nicht hinter einer Fiktionsbehauptung verstecken, deswegen ist das Buch auch nicht als ‚Roman’ ausgewiesen. Ohne die gesellschaftspolitische Wirkung von Literatur überhöhen zu wollen – ich denke, es hat dazu beigetragen, den Begriff ‚Klasse’ zurück in die Diskussion zu bringen. Raus aus der Ecke des verstaubten Steinzeitkommunismus. Die soziale Realität ist, dass wir in einer Klassengesellschaft leben. Woraus zum Beispiel folgt, dass es nicht möglich ist, aus eigener Kraft nach oben zu kommen. Man braucht Hilfe. ‚Aber Sie sind doch das beste Beispiel dafür, dass man es schaffen kann’, wurde mir oft schulterklopfend widersprochen...

Die Aufsteigergeschichte als soziale Beruhigungspille?

Die soll ja auch Menschen mit Migrationsgeschichte immer wieder verabreicht werden. Eine Diskriminierungserfahrung, die ich direkt teile. Mantramäßig habe ich wiederholt: Ich bin die Ausnahme, die die Regel bestätigt. 20 Prozent der Arbeiterkinder studieren, 70 Prozent der Akademikerkinder, warum ist das wohl so? Weil es so sein soll. Aber wir können das ändern. Ich bin derjenige, der „es geschafft hat“ – wir sind ja keine Ständegesellschaft, zum Glück. Da wäre es wirklich unmöglich. In der Klassengesellschaft ist es möglich, aber man muss es auch möglich machen. Und das schafft der Einzelne, der unten ist, nicht alleine.

Haben Sie die Gefahr von Armutsvoyeurismus gesehen, als Sie „Ein Mann seiner Klasse“ schrieben?

Absolut. Mir ging es darum, eine Dosis an Eindeutigkeit zu finden, die meine Geschichte nicht zum Sozialporno ausarten lässt und trotzdem über Andeutungen hinausreicht. Es gibt ein oder zwei Szenen, die sehr explizit schildern, wie mein Vater vorgegangen ist, wenn er gewalttätig wurde. Das war mir wichtig, weil beim Thema Armut schon so viel weggesehen wird, dass ich selbst nicht auch noch wegsehen wollte.

Wie zeigt sich Klassismus?

Ich kann Ihnen ein konkretes Beispiel beschreiben: Wir gehen als Studentengruppe – ich bin das einzige Arbeiterkind – an einer Eckkneipe vorbei. Einer sagt: Guckt euch mal diese Assi-Kneipe an. Warum mich das in diesem Moment persönlich verletzt hat, musste ich sehr ausführlich erklären. Das waren keine Sozialchauvinisten, aber sie hatten das, was man als Klassismus bezeichnet, tief verinnerlicht. Dafür mehr Bewusstsein zu erzeugen, ist ein langer Prozess. Wobei man nie vergessen darf, dass es nicht darum geht, netter zu den Armen zu sein, sondern die Armut abzuschaffen. So wie es bei Rassismus nicht darum geht, dass die Polizisten das racial profiling freundlicher durchführen, sondern darum, dass es nicht mehr stattfindet.

Immer wieder thematisieren Sie in Ihrem Buch auch die mangelnde Solidarität zwischen deutschen und türkischen Arbeitern. Obwohl sie im selben Boot sitzen und einen gemeinsamen Feind hätten. Deuten sich da schon die Spaltungen an, die wir bis heute in Debatten um die vermeintlich fehlgeschlagene „Integration“ erleben?

An dem Begriff der sogenannten Integration zeigt sich ganz stark, dass wir es mit einer Kulturalisierung des Klassenkampfes zu tun haben. Angefangen mit dem Sarrazin-Buch „Deutschland schafft sich ab“, das nicht nur zutiefst rassistisch, sondern auch klassistisch ist. Sarrazin behauptet, es sei die kulturelle Eigenart bestimmter Menschen, sich nicht in „unsere“ Wertesysteme zu integrieren, nicht arbeiten zu wollen. Da ist die Klassenfrage nicht von der Ethnisierung zu trennen. Obwohl das Erscheinen dieses Buchs schon 12 Jahre zurückliegt, wird mir die Verknüpfung dieser Fragen immer noch zu wenig diskutiert. Auch unter Linken, wo oft behauptet wird, man könne entweder für Geflüchtete Partei ergreifen oder für die autochthonen Arbeiter. Nein. Anstatt sie als vermeintliche Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt aufeinanderzuhetzen, müsste man dafür sorgen, dass für alle gute Bedingungen herrschen.

„Die sogenannte Politikverdrossenheit hat nicht in den Nullerjahren angefangen.“

Zielen nicht Debatten über Identitätspolitik, die wir heute erleben, auch nur darauf, einen Keil zwischen Marginalisierte zu treiben?

Leider ist das so. Und bedauerlicherweise wird dieser Keil von beiden Seiten getrieben. Von konservativen „Spiegel“-Kolumnisten, die sich darauf stürzen, dass an der Humboldt-Universität der Vortrag einer Wissenschaftlerin abgesagt wird, die behauptet, es gebe zwei biologische Geschlechter. Eine Absage, die ich nicht gutheißen will, aber der Wirbel darum erscheint mir verdächtig. Gerade in Zeiten, in denen eine Mehrheit der Bevölkerung ganz andere Probleme hat, und das nicht nur hierzulande. Und auf der anderen Seite wird Identitätspolitik von links leider auch selten so betrieben, dass sie auf Gemeinsamkeiten schaut statt auf das Trennende. Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist auch Identitätspolitik, immer schon gewesen, aber in dem Sinne, dass sie das Vereinende, das Verbindende sehen wollte.

Wie schauen Sie heute auf den Befund, den Sie in „Proleten, Pöbel, Parasiten“ angestellt haben – dass gerade eine Linke die Arbeiter oft verächtlich macht? Findet ein Umdenken statt?

Ich nehme eher Verhärtungen wahr. Das Buch habe ich in die linke Szene hinein geschrieben, aus einer Irritation mit der eigenen linken Politisierung heraus. Ich dachte, diese Menschen vertreten meine Interessen, jetzt geht’s los, wir bekämpfen gemeinsam das Patriarchat, den Rassismus und die Klassengesellschaft. Aber von wegen. Es gab eine kurze Zeit, während der Finanzkrise 2007, 2008, da trafen sich auf einmal Marx-Lesekreise, da konnte ich andocken. Aber wie schnell das verpufft ist! Insofern würde ich sagen: Die grundlegenden Befunde haben sich nicht geändert. Ich würde das Buch angesichts der zunehmenden Polarisierung heute nur weniger polemisch schreiben.

Ihre Figuren Willy und Horst scheinen an Politik überhaupt keine Erwartungen mehr zu haben.

Aus jeweils unterschiedlichen Gründen. Der Punkt wurde mir schon von einigen Menschen gespiegelt, die Vorabexemplare des Buches erhalten haben. Aber in meiner Familie und in den Generationen davor ist und war das einfach so. Die sogenannte Politikverdrossenheit hat nicht in den Nullerjahren angefangen. Ja, es gab damals die Euphorie „Willy wählen“ und eine Wahlbeteiligung von über 90 Prozent. Aber schon drei Jahre später war es damit wieder vorbei. Die Enttäuschung, die damals produziert wurde, hat sich massiv niedergeschlagen.

Wie macht sie sich bemerkbar?

Ich lasse in meinem Buch immer wieder diese kleinen politischen Entscheidungen und Diskursverschiebungen anklingen: Auf einmal wird der Akkordzuschlag abgeschafft. Es wird schwer, einen Betriebsrat zu gründen. Gewerkschaften sind angeblich schuld daran, dass wir in die Krise rutschen. Parallel dazu die Erkenntnis, dass es nicht nur Wachstum gibt, sondern auch Rezession – und man sich dann die Frage stellt, wie man damit umgeht, wie die Lasten verteilt werden sollen. Da gibt es klare Gewinner und Verlierer. So wie heute.

Zur Person

Christian Baron, geboren 1985 in Kaiserslautern, lebt als freier Autor in Berlin. Aufgewachsen ist er in prekären Verhältnissen, als Sohn eines zur Gewalt neigenden Hilfsarbeiters. Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier arbeitete er mehrere Jahre als Zeitungsredakteur, zunächst für das „Neue Deutschland“, später für die Wochenzeitung „Der Freitag“. 2016 veröffentlichte er das Sachbuch „Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten“. 2020 erschien sein literarisches Debüt „Ein Mann seiner Klasse“, für das er unter anderem den Klaus-Michael-Kühne-Preis erhielt. Baron stellt darin die eigene Biografie in einen größeren gesellschaftspolitischen Zusammenhang. 2021 folgte die zusammen mit Maria Barankow herausgegebene Anthologie „Klasse und Kampf“.

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