Gratis-Interview Christian Baron

Christian Baron

„Es geht nicht darum, netter zu den Armen zu sein.“

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  • Meike Kenn
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14. Juli 2022, Berlin. Der Schriftsteller und Journalist Christian Baron hat als Treffpunkt ein Café im Wedding ausgesucht, dem alten Arbeiterbezirk Berlins. Hier, sagt er, seien die Milieus noch nicht so separiert wie in anderen Teilen der Stadt. Baron ist offen, freundlich – und von seltener Deutlichkeit, wenn es um das Thema geht, das auch seinen neuen Roman „Schön ist die Nacht“ bestimmt: den Überlebenskampf der Arbeitenden am unteren Ende der sogenannten sozialen Leiter. Es wird ein engagiertes Gespräch über den Begriff der Klasse, den Sündenfall des Gerhard Schröder und die Härten, die uns als Gesellschaft erst noch bevorstehen.

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Christian Baron, gibt es in Ihren Augen so etwas wie anständige Arbeit?

Aus dem Geschichtsunterricht weiß ich noch, dass dieser Begriff in der Nazizeit eine große Bedeutung hatte, schon deswegen bin ich misstrauisch und würde ihn nicht verwenden. Willy, einer der Protagonisten meines Romans „Schön ist die Nacht“, trägt ihn dagegen vor sich her, als Angehöriger einer Generation, die während des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen ist, aber noch zu jung war, um sich schuldig zu machen. Was er darunter versteht, ist eine Arbeit, die einen morgens so in den Spiegel schauen lässt, dass man mit sich im Reinen ist. Einen Job, der nicht nur Selbstverwirklichung, sondern auch Verantwortung bedeutet, weswegen man auch die negativen Seiten in Kauf nehmen muss.

Gab es für Sie den Moment, in dem Sie realisiert haben: Ich mache die Arbeit, die ich machen will?

Den hatte ich sehr früh schon. Bei Menschen mit meiner sozialen Herkunft gibt es zwei Möglichkeiten, wenn man Abitur gemacht hat und sich fragt, wie es danach weitergeht. Man kann zum einen Sicherheit wählen, womit vor allem soziale Sicherheit gemeint ist. Das ist der Weg, der in meiner Familie als der bessere gegolten hätte. Mein Onkel hat oft gesagt: Studier doch Jura, dann verdienst du Geld und kannst was für den kleinen Mann machen. Aber ich habe schon während meiner Schulzeit gemerkt, dass das Schreiben eine Tätigkeit ist, in der ich aufgehe. Ich will diesen deutlich unsichereren Weg gar nicht romantisieren, habe oft genug damit gehadert. Aber über die letztliche Entscheidung bin ich froh.

Hat Sie das Aufwachsen in Armut mutiger gemacht?

Freunde an der Uni, die wussten, wie ich aufgewachsen bin, haben mir oft gesagt: Eigentlich müsstest doch gerade du besonders selbstbewusst sein, mit deiner Herkunft, du bist jetzt hier! Aber das sagt sich so leicht. Natürlich hat meine Geschichte mir die Kraft gegeben, bestimmte Rückschläge auszuhalten. Neudeutsch nennt man das Resilienz. Ich bin ins Berufsleben gestartet mit einem fünfstelligen Schuldenberg im Rücken, weil ich so stur war zu studieren, was ich wollte, und nicht zur Bundeswehr gegangen bin.

Wäre das wirklich eine Option gewesen?

Als ich 18 war, sind wir mit der Schule zum Arbeitsamt gefahren. Ein Ausbildungsoffizier, der sich die Schülerprofile wohl vorher angeschaut hatte, hat mich gezielt zum Gespräch gebeten: Deine Eltern haben nicht studiert, aber du würdest schon gerne, oder? Bundeswehr-Uni, da studiert man bei vollem Gehalt, zwölf Jahre Dienstzeit, dann bist du Beamter und hast die totale Sicherheit. Ich war erst mal Feuer und Flamme und dachte, ich bin ein gemachter Mann. Dazu noch das Prestige, zu Hause sagen zu können, dass ich etwas für unser Land tue. So war ich damals noch drauf, bevor ich links politisiert wurde. Allerdings hieß es in einem Nebensatz, Auslandseinsätze seien verpflichtend. Das hätte bedeutet, dass ich auch nach Afghanistan gemusst hätte. Für diesen Krieg wollte ich meinen Kopf nicht hinhalten. Also habe ich schließlich verweigert.

„Beim Thema Armut wird schon so viel weggesehen, dass ich selbst nicht auch noch wegsehen wollte.“

Ihr Roman „Schön ist die Nacht“ ist den 70er Jahren verortet, vor dem Horizont des abklingenden Wirtschaftswunders, die Ölkrise blitzt auf, für viele hat der Traum vom Wohlstand sich nicht verwirklicht – wieso gehen Sie zurück in diese Zeit?

Ursprünglich wollte ich einen ganz anderen Bogen schlagen und schauen, was die Generation meiner Großeltern umgetrieben hat – um mich darüber der Frage zu nähern, wie mein Vater so geworden ist, wie er war. Als ich schon 80 oder 90 Seiten geschrieben hatte, ist mir aufgefallen: Eigentlich interessiert mich die Rush Hour des Lebens viel mehr. Und die fiel für diese Generation eben in eine Zeit, über die gerade viel geredet wird, es erscheinen aktuell jede Menge Bücher über die 1970er Jahre, die versuchen, Fenster zu unserer Gegenwart zu öffnen. Um zu verstehen, wie sich unsere Gesellschaft verändert hat, zum Guten wie zum Schlechten.

Welche Erkenntnisse lassen sich da gewinnen?

Als Linker kenne ich die nostalgische Forderung sehr gut, wir müssten nur den Sozialstaat von damals wiederbeleben, den vor dem Ende des sogenannten Wirtschaftswunders, dann sei alles wieder gut. Wenn man näher hinschaut, sieht man aber, wie dieser Wohlstand mit Rassismus erkauft wurde, weil sogenannte Gastarbeiter überausgebeutet wurden. Und wie die Geschlechterverhältnisse damals waren – mit einem sehr stabilen Patriarchat. Das setzt die Wehmut in ein anderes Licht. Zudem gab es auch damals Armut. Diese Perspektive hat mir gefehlt.

Das Phänomen der Erwerbsarmut – hart zu schuften und trotzdem kaum über die Runden zu kommen – ist in Deutschland bis heute vergleichsweise wenig sichtbar, oder? Anders als in den USA, wo viele drei Jobs gleichzeitig machen, oder in Großbritannien, wo man auch als Arbeitender in rasanter Geschwindigkeit auf der Straße landen kann.

Ich glaube, dass der Abbau des Sozialstaats in Deutschland doch ein bisschen später eingesetzt hat als in Großbritannien oder in den USA. Thatcher und Reagan haben daran schon in den 1980ern gearbeitet, in Deutschland hat es eigentlich bis zu Gerhard Schröder gedauert. Deswegen wollen viele das nicht wahrhaben. Wenn hierzulande in den Medien – selbst von Leuten, die sich mit Sozialpolitik auskennen – von Hartz-IV-Empfängern die Rede ist, wird ganz oft unterschlagen, dass Millionen von ihnen arbeiten. Es wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, das seien allesamt Erwerbslose, was einfach nicht stimmt.

Die Figuren in „Schön ist die Nacht“ haben durchaus ein Bewusstsein für die Fragilität ihrer Situation. Einmal heißt es: „Grad hast du noch dein kühles Vormittagspils aufgeploppt, plötzlich gehst du stempeln statt schaffen.“

Das ist ein Satz, den ich mehrmals genau so von meinem Opa gehört habe. Aber erst während der Arbeit an diesem Buch ist mir wirklich klar geworden, wie positiv besetzt damals ein Klassenbewusstsein oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe wie den Arbeitern wirklich war. In Zeiten der Identitätspolitik könnte man auch sagen: wie identitätsstiftend. Das ist heute völlig verloren gegangen, mittlerweile wollen alle Mittelschicht sein. Selbst ein Friedrich Merz. Aber was verbindet mich mit jemandem, der im eigenen Flugzeug zu einer Hochzeit fliegt? Nichts, außer der Tatsache, dass wir Menschen sind und den gleichen Wert haben, aber das spiegelt sich nicht in der Politik dieser Leute.

Armut wird gerade als Thema wiederentdeckt – jedoch als Angstthema.

Das Problem ist doch, wie dieser drohende Wohlstandsverlust beschworen wird. Diejenigen, die alles besitzen und nichts verlieren werden, predigen denjenigen, die sehr viel zu verlieren haben, sie müssten mal den Gürtel enger schnallen. Das halte ich für ein Riesenproblem. Als jemand, der Angst vor einem noch mehr erstarkenden Rechtsextremismus hat, kann ich nur an die Politik appellieren: Kürzt nicht bei den Ärmsten, sorgt dafür, dass die Lasten besser verteilt werden – und hört auf, euch so sicher zu fühlen in dieser Krise. Robert Habeck sagt, dass die Hälfte der Bevölkerung bald mehr ausgeben wird, als sie einnimmt. Wann gab es das zuletzt? In der Bundesrepublik noch nie, glaube ich. Den Gürtel enger schnallen – das sagen Menschen wie Joachim Gauck, die 200.000 Euro Ehrensold im Jahr erhalten. Irgendwann gerät eine Demokratie in Gefahr. Menschen lassen nicht auf alle Zeit alles mit sich machen.

Das Feuilleton entdeckt gerade Brecht wieder. Zum Beispiel sein berühmtes Gedicht „Reicher Mann und armer Mann, standen da und sah’n sich an“… … „und der Arme sagte bleich, wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

Brauchen wir wieder ein Klassenbewusstsein?

Es gibt ja eine Klasse, die dieses Bewusstsein hat. Sonst wären wir nicht in einer Situation, in der es keine Vermögenssteuer gibt. Warum? Weil die Klasse, die ein Interesse daran hat, dass sie abgeschafft wurde, Druck ausgeübt hat. Gerhard Schröder als jemand, der oft erzählt hat, wie er den Kitt aus den Fenstern fressen musste, der wirklich in Armut aufgewachsen ist, präsentiert sich heute als Putins Chef-Lobbyist in Europa. Das ist ein Weg, den nur gehen kann, wer sich der neuen Klasse so anpasst, dass ein Bewusstsein besteht: Ich bin da angekommen und will auch bleiben. Was wir brauchen, ist ein Klassenbewusstsein von unten.

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