Nachruf

Zum Tod von George Michael

Am ersten Weihnachtstag 2016 starb George Michael im Alter von 53 Jahren. Eine Erinnerung an den großen Popkünstler von André Boße, der ihn vor gut zehn Jahren für ein langes GALORE-Interview in London traf.

Als wir George Michael am 25.11.2005 nachmittags in einem Hotel im Stadtviertel Marylebone im Herzen Londons begegnen sollten, bat sein Manager um Verständnis für eine Verspätung. Das ist nichts Ungewöhnliches, wenn man sich mit Berühmtheiten verabredet. Bei der Deutschen Bahn gelten Verspätungen unter fünf Minuten als pünktlich; trifft man sich mit Stars, sind 15 Minuten keine Rede Wert. Die häufigsten Ausreden: Mrs. X habe noch nichts gegessen. Einzuplanen sind dann 30 Minuten. Oder aber: Mr. X ruhe sich noch aus. Unter einer Stunde geht dann nichts, der Schönheitsschlaf geht vor. Was damals der Manager von George Michael forderte, übertraf jedoch: Ob noch vier bis fünf Stunden warten könne, fragte er. Wow.

Die Ausrede? Nichts mit Essen oder Ausruhen. Der Manager hatte ein starkes Argument. Er habe GALORE im Vorfeld studiert, es gehe hier ja wohl um lange Gespräche – daher wäre es klug, das Interview mit George Michael am Endes des Tages einzuplanen, wenn die anderen Medienvertreter versorgt sind. "Keine Sorge, es wird sich auszahlen", sagte der Manager, bevor er uns in den kalten Londoner Novembernachmittag schickte.

Als wir zurückkamen, war es bereits Abend. In der Suite hing George Michael am Telefon, Andrew Ridgeley war dran, sein alter Kollege von Wham! Man ahnte, warum die beiden kurz vor dem ersten Advent telefonieren: Die Vorweihnachtszeit stand an – und damit der Beginn des alljährlichen "Last-Christmas"-Marathons. Millionen Male dudelt der Song in den Radios und durch die Weihnachtsmarktboxen. George Michael hatte ihn geschrieben, er kassierte für die alte Wham!-Nummer. Das war ein Geschenk des Himmels. Aber auch ein kreatives Drama, denn wenn man jährlich so viel Kohle mit diesem Kitschding verdient, fällt es an einem gewissen Punkt wohl schwer, sich auf etwas Neues und Abenteuerliches einzulassen.

Zu Gast in der Suite war auch sein damaliger Lebenspartner Kenny. Die beiden waren seit 1996 zusammen, erst drei Jahre später hatte George Michael seine Homosexualität öffentlich gemacht. Im Interview sprach George Michael über sein Outing, das er so lange es ging herauszögerte, weil er Angst hatte, er würde seiner Mutter damit das Herz brechen. Er sprach viel über seine geliebte Mutter, über die Trauer um ihren Tod. Und er sprach über Marihuana, das er täglich konsumierte, um sich in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen zu bringen, der seiner Meinung nach die Kreativität fördere. So recht glaubte er wohl selbst nicht daran, aber egal. Das Gespräch war ein fantastisches Erlebnis. George Michael sprach ohne Visier. Er nahm die Fragen an, überlegte oft lang, antwortete reflektiert und differenziert. Das lange Warten hatte sich gelohnt.

Was heute, gut elf Jahre nach dem Interview, zwei Tage nach seinem Tod auffällt: An diesem Novemberabend in Marylebone sprach George Michael, der Mensch. George Michael, der Songwriter hatte seinen – darf man das so sagen? – Dienst bereits so ziemlich eingestellt. Es folgten noch drei Touren und ein paar Singles. Die kreative Kraft, etwas Neues zu erschaffen, war verflogen. Da half auch das Kiffen nichts. Wahrscheinlich schadete es eher. Schlimm, war das nicht. Erstens ist sein Werk auch ohne späte Zugänge gigantisch. Jeder, der Pop liebt, wird ein Handvoll Songs von George Michael nennen können, die ihm direkt aus dem Herzen sprechen. Es liegen Welten zwischen "Club Tropicana" und "Praying For Time", zwischen "Wake Me Up Before You Go-Go" und "Cowboys And Angels". Doch diese Stücke stammen aus diesem großartigen George-Michael-Universum, in dem die körperliche und die seelische Sehnsucht die größten Kräfte sind. George Michael hat selbst in einem Refrain zusammen gefasst: "I'm never gonna dance again/ guilty feet have got no rhythm." Bessere Zeilen kennt der Pop nicht.

Zweitens hat George Michael auch ohne neue Hits und Alben weiter gewirkt – nämlich als Mensch. Er kämpfte mit Leib und Seele für die Rechte der LGBT-Bewegung. Erfand zusammen mit James Corden das Format "Carpool Karaoke", bei dem Superstars mit dem TV-Comedian zusammen Auto fahren und ihre Hits singen. Spendete, wie jetzt bekannt wird, Millionenbeträge für den Kampf gegen Aids und andere Hilfsorganisationen. Arbeitete anonym in einer Obdachlosenunterkunft.

George Michael war lange nicht mehr in den Charts? Na und? Er war weiterhin Teil des Lebens vieler, vieler Menschen. Passiv, durch seine Platten. Aktiv, durch sein humanistisches Wirken.

Im GALORE-Gespräch, das Sie hier gratis lesen können, outete sich George Michael als Kümmerer. Als jemand, der sich lieber um andere sorgt, als um sich selbst. "Ich fühlte mich schon als Jugendlicher für Dinge verantwortlich, für die ich es gar nicht war", sagte er. "Ich bin sehr gut darin, mich schuldig zu fühlen. Was ich nicht kann, ist um Hilfe zu bitten. Ich leide still, und das ist nicht gut."

Nein. Das war nicht gut.

André Boße