Literatur

Sven Regener liest Franz Kafka

Der Proceß

tacheles! / Roof Music

Kafka von der Waterkant

Wer Kafkas Literatur als Schulqual kennenlernt, denkt nicht an Emotionen oder rotzigen Humor. Spricht Sven Regener den Stoff ein, entdeckt man ihn völlig neu.

Für viele ist die Beschäftigung mit den Texten des Prager Juristen, der sein Meisterwerk „Der Proceß“ posthum nicht einmal veröffentlicht sehen wollte, ein Gottesdienst. Ehrfürchtig enträtseln sie jedes einzelne Wort und zwingen auch ihre Mitmenschen zur klösterlich strengen Text-Exegese. Die Literaturwissenschaft verzeichnet über 50.000 Forschungstexte. Für Sven Regener ein unerträglicher „Interpretations- und Deutungszwang, der einem alles miesmacht, weil man dabei zwangsläufig scheitern muss.“ Der Schriftsteller („Herr Lehmann“) und Sänger von Element Of Crime nähert sich Kafkas Schlüsselwerk auf vollkommen andere Art. Er liest es präzise, aber schnodderig, laut und mit unverhohlenem Hamburger Akzent. Als würden sich die Hafenarbeiter gegenseitig das Gleichnis von Josef K. und dem rätselhaften „Gericht“ erzählen. Surrealismus als Punkrock. Ein Kafka von der Waterkant. „Kafkas Stil hat viel mit Emotionen zu tun“, begründet Regener diesen Tonfall, „mit fortdauernder, sich kumulierender Erregung. Die Gefühle türmen sich aufeinander, bis sie den Protagonisten zu erdrücken drohen, dazu kommen die Widersprüche im Denken, die Seitenwege der Schlussfolgerungen, die Irrtümer und Fehlleistungen. Mein Ansatz beim Lesen war es, das alles zügig aufeinanderzuschichten, so wie es in den Gedanken und Beobachtungen der Menschen ja auch passiert. Da läuft im Oberstübchen nichts Behäbiges, Erhabenes oder gründlich Reflektiertes ab, das ist alles roh und spontan.“ Regener erzeugt auf diese Weise eine Aufnahme, die sich von allem unterscheidet, was je in Sachen Kafka als Hörbuch gepresst wurde. In gewisser Weise schlägt sie sogar das Hörspiel von Regisseur Klaus Bühlert, das 2010 als 16-CD-Box in der Originalnachstellung von Kafkas Notizheften erschien. Editorisch unterlegen, kommt dieses Hörbuch der Seele des Textes näher, vor allem dessen absurdem Humor. Wie bei den seltenen Lesungen, die Kafka zu Lebzeiten gegeben hat und bei denen er sich köstlich amüsierte, hat auch Regener schon „die Erfahrung gemacht, dass bei Kafka-Lesungen gelacht wird“. Er deutet das als „dringend benötigte Triebabfuhr“ nach Freud. Man müsse sich beim „Proceß“ auf diese Weise vom „Mitleid“ und „Entsetzen“, das die Lektüre auslöst, „distanzieren“. Über die Frage, ob Josef K. schuldig ist, hat Regener sich allerdings noch nie Gedanken gemacht. „Ich weiß ja nicht einmal, was für eine Schuld das sein soll. Und es scheint mir auch egal zu sein.“

Oliver Uschmann

Unser Fazit: Es geschieht nur äußerst selten, dass ein Hörbuch mehr darstellt als lediglich eine gute Möglichkeit, ein Buch mit auf Reisen zu nehmen und sich auf der Autobahn vorlesen zu lassen. Sven Regeners Interpretation von Kafkas großem Romanfragment erschafft ein neues Werk, eine völlig andere Sichtweise. Man höre allein, wie der Hamburger den Namen der Vermieterin „Grubach“ förmlich ausspeit. Ein einzigartiger Kafka, bei dem lediglich die Aufmachung der Box liebevoller, umfangreicher und kommentierender hätte gestaltet werden können.

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