Literatur

Literaturtipp der Woche

Jan Böttcher • Das Kaff

Der Singersongwriter und Schriftsteller Jan Böttcher entführt in seinem fünften Roman in die Provinz. „Das Kaff“ ist ein Heimatroman im allerbesten Sinne.

„Unser Dorf hat noch immer dieses gelbe Eingangsschild, weil man es sonst nicht sieht“, textete Jan Böttcher vor exakt einem Jahrzehnt, als er noch Sänger der Berliner Band „Herr Nilsson“ war. Nun ist man geneigt, zu diesem Song zurückzugehen, um einen zusätzlichen Schlüssel für seinen Roman „Das Kaff“ in die Hand zu bekommen. Denn es kann doch nicht sein, dass eine so simple Geschichte, wie er sie hier erzählt, einen derart einfängt, dass man dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen kann. Und doch ist es so, denn der 45-jährige Wahlberliner versteht sein Handwerk. Seine gleichermaßen lyrische wie lakonische Sprache weckt Erinnerungen an eine längst vergessene Welt, wie sie jeder in sich trägt. Michael Schürtz wollte eigentlich nie zurück in sein Heimatdorf. Nicht weil es ein Trauma gibt, sondern weil dieses „Shitty Littleron“ einfach in eine andere Zeit gehört. Ein Bauprojekt führt den gelernten Tischler, der es inzwischen zum Architekten gebracht hat, zurück. Bei einem alten Freund in dessen Wohnung kommt er unter, es ist ja nur für ein paar Wochen. Wie das in Käffern so ist, spricht sich schnell herum, dass Micha wieder da ist. Und je länger er bleibt, desto mehr fängt ihn die Vergangenheit ein. Denn es gibt „zu viele Seiteneingänge in die alte Welt“. „An Erinnerungen hat mich immer genervt, dass man sie nicht beherrschen kann“, gibt der Ich-Erzähler an einer Stelle zu Protokoll, und so nimmt es nicht Wunder, dass sie ihn immer dann überkommen, wenn er am wenigsten damit rechnet. Da sind sein alter Fußballverein und das tragische Schicksal des alten Platzwarts Prinz, die seine Neugier wecken. Oleg, Gerwin, Prinz – plötzlich stehen diejenigen, die seine Jugend mit der kleinen Portion Sinn gefüllt haben, die man im Kaff finden kann, wieder vor ihm. Sie überreden ihn, das Training der C-Jugend zu übernehmen, und als Leser beschleicht einen hier erstmals das Gefühl, dass er länger in diesem Scheißkaff bleiben könnte als geplant. Auch die Begegnung mit seinem alten Tischlermeister Sancho berührt ihn mehr als er das erwartet hat. Denn statt ihm in einer Notlage auf der Baustelle unter die Arme zu greifen, macht Sancho seinem alten Schüler klar, dass er im Gegensatz zu ihm inzwischen gelernt hat, worauf es im Leben ankommt. Und auch seinen Geschwistern und der unrühmlichen Geschichte um den Tod seiner Mutter kann der Ich-Erzähler nicht ewig aus dem Weg gehen. Zudem verliebt er sich in Carla, die in den Wohnpark zieht, für dessen Bau er verantwortlich ist. Und so findet er in diesem, von der Welt vergessenen Nest mit gelbem Ortsschild plötzlich das, was er im fernen Berlin vergeblich gesucht hat: das Leben. Böttcher schnitzt aus dem dörflichen Kleinklein eine hinreißende Handlung, die anders gar nicht sein könnte. Eingefangen vom wehmütig-staunenden Blick seines Protagonisten bildet er in diesem Mikrokosmos die Sorgen und Nöte der Gegenwart ab und schafft damit etwas Großes: eine vollkommen andere, aber absolut plausible Perspektive auf die Welt, die die Zerrissenheit unserer Zeit sichtbar macht.


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Thomas Hummitzsch