Literatur

Buch der Woche

Olivier Adam – Die Summe aller Möglichkeiten

Klett-Cotta · 10. Juni

Fliehen vor der Geburt

Olivier Adam weiß selbst, was es bedeutet, sich radikal dem Leben stellen zu müssen. Man kann ihm nicht entkommen. So auch nicht die Helden seines betörenden Romans.

Er will hier sein, genau hier. Leben, wo andere Urlaub machen. Da ist das Meer, dort ist er, Serge. „Von Zeit zu Zeit angeln mit den Kumpels. Am Wochenende grillen im Kreis der Familie. Eine gute Zeit, kühles Bier und Erdnüsse. Er hat nie mehr als dieses Leben verlangt. Es passte ihm wie angegossen.“ Olivier Adam, geboren 1974 und in der Pariser Banlieue aufgewachsen, hat zahlreiche Romane, Jugendbücher und Erzählbände veröffentlicht. Kultstatus erreichte er in Frankreich und Deutschland mit seinem später verfilmten Roman „Keine Sorge, mir geht's gut". In „Die Summe aller Möglichkeiten“ breitet er auf 448 Seiten und literarisch anspruchsvoll collagiert verschiedene Leben aus; Menschen an einem kleinen Badeort an der Côte d‘Azur, die Touristen sind bereits abgereist, zurück in ihre Alltagsleben. Der Amateurfußballer Antoine aber wird ihn wohl nie verlassen können, diesen Ort. Und die Frage ist, hat man überhaupt die Wahl? „Das ist das Problem mit dem Leben. Dasjenige, das man hat, ist immer zu eng, und das, das man gern hätte, ist zu groß, um es sich auch nur vorstellen zu können. Die Summe aller Möglichkeiten ist das Unendliche, das gegen Null tendiert.“ Gefragt, ob man geboren werden will, hat einen sowieso niemand. Der Philosoph E.M. Cioran spricht „vom Nachteil, geboren zu sein“. Seiner Überzeugung nach, rennen wir nicht dem Tod entgegen, sondern flüchten vor der Katastrophe der Geburt. Denn das eigene Ich trägt eine schwere Last. Sie ist auch Antoine bewusst: „Manchmal wäre es ihm lieber gewesen, er wäre nicht mehr aufgewacht. Manchmal wäre es ihm lieber gewesen, er wäre bei seiner Mutter geblieben, dort oben oder unten, irgendwo, wo, weiß er nicht, ein Ort weiß wie konzentriertes Licht, eine schneebedeckte Ebene, wo du nicht frierst, eine Eiswüste bei 20 Grad Celsius.“ Antoine kann die Geschehnisse nicht abwenden. Am Strand taucht eine Frau auf, sie spricht kein Wort, und mehrere Männer verschwinden spurlos. Antoine, seine Freunde, Familie, Mannschaft – sie alle ergründen, was geschehen ist. Adam bringt seine Protagonisten in radikale Konfrontation mit ihrer Existenz und findet eine betörende Sprache für ihre Versuche der Bewältigung. Nach der Erhellung folgt die Verdunkelung, wie sie auch Cioran beschreibt: „Je weiter es sich von der Morgenröte entfernt und im Tag fortschreitet, desto mehr prostituiert sich das Licht und wird erst wieder rein, wenn es verschwindet."

Fazit: Man lebt, weil man leben muss. Olivier Adam ist Meister darin, nichts zu beschönigen, nichts zu versprechen und doch weht Hoffnung und Sehnsucht in das Erzählte. Manche Sätze sind hart und suchend, manche umschmeicheln poetisch. Ein melancholisches Psychogramm greift in das andere. Wie gemacht für Grübler und Nihilisten. Aber nicht nur. Ebenso wie Cioran beweist Adam, dass im radikalen Nein unerwartet ein radikales Ja aufblitzen kann. Und die letzte Antwort ist: Mitgefühl.

Sylvie-Sophie Schindler