Kino

02.11. | Kinostart der Woche

Anatomie eines Falls

02.11. | Kinostart der Woche - Anatomie eines Falls

Foto: Plaion Pictures


»Drehen fällt mir leicht.«

Dass Sandra Hüller zu Deutschlands besten Schauspielerinnen gehört, wissen längst auch Regisseur:innen im Ausland. Bevor sie im Februar in Jonathan Glazers »Zone of Interest« zu sehen ist, spielt sie nun die Hauptrolle im diesjährigen Cannes-Gewinner »Anatomie eines Falls« der Französin Justine Triet – und gilt damit prompt als Oscar-Anwärterin.

Frau Hüller, »Anatomie eines Falls« ist ein emotional aufreibender Film, in dem Sie in fast jeder Szene zu sehen sind. Wie groß war die Herausforderung dieser Rolle?
Ich habe schon häufig gesagt, dass ich die Arbeit an Filmen nicht als riesige Herausforderung empfinde. Es fällt mir nicht sonderlich schwer, eine Rolle vor der Kamera zu spielen; für mich ist das eher eine sehr privilegierte, komfortable Situation. Oft ist es geradezu luxuriös, weil alle sich gut um einen kümmern und jeder weiß, worauf es ankommt. Schwierig finde ich nur, wenn Leute sich am Set daneben benehmen oder jemand zu Dingen genötigt wird, die sie oder er nicht machen möchte. Aber im Idealfall ist das Drehen etwas, das mir leichtfällt. Wenn es besondere Herausforderungen gab, dann waren das bei »Anatomie eines Falls« höchstens linguistische. Denn natürlich musste ich mich sprachlich ein wenig vorbereiten und mein Französisch aufbessern.

Die Arbeit am Text ist für jemanden, der wie Sie vom Theater kommt, natürlich essenziell. Fühlen Sie sich in anderen Sprachen inzwischen genauso zuhause wie im Deutschen?
Auf Englisch zu drehen, fällt mir inzwischen recht leicht, und auf Französisch wird es das hoffentlich noch. Ich liebe es, die Sprache zu sprechen, und es gibt sehr viele französische Schauspieler:innen, die ich sehr bewundere. Natürlich bedarf es, wie gesagt, einer gewissen Vorbereitung, wenn ich in einer anderen Sprache spiele. Auf Deutsch muss ich über gewisse Dinge nicht nachdenken. Aber ich fühle mich nicht weniger wohl, wenn ich nicht meine Muttersprache spreche. Und letztlich ist meine Arbeitsweise immer die gleiche, denn in jeder Sprache geht es darum, dass ich zuerst verstehen muss, warum eine Figur etwas sagt, dann wie sie es sagt, und schließlich wie ich das zum Ausdruck bringen kann.

Im Fall von »Anatomie eines Falls« ist die Mehrsprachigkeit natürlich auch Teil der Figur und der Geschichte, schließlich spielen Sie eine Deutsche, die in Frankreich lebt und mit ihrem Mann Englisch spricht …
Sie war auch Teil des Arbeitsprozesses, der dadurch besonders interessant war. Die Regisseurin Justine Triet spricht natürlich auch Englisch, aber so richtig wohl fühlt sie sich in der Sprache nicht. Genauso wie ich eben nicht unbedingt wirklich komplexe Gespräche auf Französisch führen kann. Deswegen ging es sprachlich am Set immer wieder kreuz und quer, mal in der einen, dann wieder in der anderen Sprache. Und wenn ich die anderen hochnehmen wollte, musste ich nur Deutsch sprechen, denn das verstand niemand. (lacht)

Ihre Figur im Film wird verdächtigt, für den Tod ihres Mannes verantwortlich zu sein. Als Zuschauer erfährt man viele Wahrheiten, aber nicht die eine endgültige, nicht wahr? Justine wollte nicht, dass es nur um die Frage geht, ob sie schuldig ist oder nicht. Viel wichtiger ist es, was die Menschen wahrund annehmen und welche Schlüsse sie aus meist ganz oberflächlichen Beobachtungen ziehen. Macht sich eine Frau schuldig, weil sie mit ihrem Kind distanzierter umgeht, als man das von anderen kennt? Weil sie Erfolg hat? Weil sie ihre Sexualität frei auslebt? Warum wir wen beoder verurteilen, ist für die Geschichte viel wichtiger als eine Antwort darauf, ob meine Figur ihren Mann nun tatsächlich getötet hat.

Wo nach entscheiden Sie, welche Rollen Sie interessieren?
Das kann ich gar nicht pauschal beantworten, weil es jedes Mal etwas anderes ist. Mal ist es der Gedanke, etwas zu spielen, was ich so noch nie gespielt habe. Oder ein Regisseur, mit dem ich schon lange einmal arbeiten wollte. Es kommt auch vor, dass mir ein Kollege ein Projekt vorschlägt und ich neugierig werde. Und manchmal ist es schlicht eine tolle Geschichte, die mich überzeugt. Tut mir leid, dass ich das nicht knackig für eine Überschrift auf einen Punkt bringen kann.


Anatomie eines Falls

  1. November, 2 Std. 23 Min.

Nach »Sybil« zum zweiten Mal vor Justine Triets Kamera spielt Sandra Hüller dieses Mal eine deutsche Schriftstellerin in einem französischen Bergdorf, deren Mann nach einem Sturz aus dem Fenster stirbt. Ein Unfall scheint es nicht gewesen zu sein, die Indizien für Selbstmord sind dürftig und so steht sie schließlich als Hauptverdächtige vor Gericht. Die Regisseurin macht daraus mit leichten Hitchcock-Anleihen weniger einen Thriller als ein genau beobachtetes und vor allem enorm vielseitiges Gerichts- und Beziehungsdrama mit einer ungemein eigenwilligen, facettenreichen und komplizierten Frauenfigur im Zentrum. Spannend ist das trotzdem jede Minute, nicht zuletzt, weil Triet ein komplexes Hin und Her zwischen Wahrheit und Wahrnehmung entspinnt und sich ganz auf das (mehrsprachige!) Können ihrer herausragenden Hauptdarstellerin verlässt.

Patrick Heidmann