Musik

01.12. | Album der Woche

Shalosh • Tales Of Utopia

ACT

01.12. | Album der Woche - Shalosh  • Tales Of Utopia

Foto: Gilad Bar Shalev


Auf Heldenreise

Das Jazztrio Shalosh aus Israel wurde für eine ganz eigene Version von Rock und Progressive Music gefeiert. Nun feiert man Zehnjähriges – mit einem Album, das so homogen wie virtuos ist. Pianist Gadi Stern verrät, wie die Band zu neuer Entspanntheit fand und warum ihnen der Dichter Homer ein Vorbild war.

Ohne Geheimnisse geht es nicht. Shalosh wissen, dass eine aufregende Band ein wenig Mysterium braucht. Und sei es nur, nicht zu verraten, welches Bandmitglied welchen Song geschrieben hat. »Obwohl jedes Stück von einem anderen stammt, geben wir diese Informationen nicht preis«, sagt Gadi Stern. »Wir glauben an dieses ›drei ist eins‹-Konzept! Ein einheitlicher Sound ist das Wichtigste – nicht der Klang eines einzelnen. Es gibt echte Fans der Band, die unsere drei Namen nicht kennen. Ich liebe das!« Stern ist Pianist von Shalosh, einem 2013 in Tel Aviv gegründeten Trio. »Shalosh« bedeutet »Drei« auf Hebräisch; ein Indiz für den bandinternen Zusammenhalt. Ihr erstes Album finanzierten die Israelis über Crowdfunding, organisierten ihre Tourneen selbst, schliefen auf abgewetzten Sofas. Die Plackerei quer durch Europa sollte sich auszahlen: 2019 wurden Shalosh von einem renommierten Label unter Vertrag genommen. Das Publikum wuchs, die Kritiken stimmten. »Heavy Jazz« nannte das Magazin Rolling Stone den Ansatz der drei, Rock und Progressive Music mit den Mitteln eines typischen Klaviertrios zu spielen. Nun veröffentlicht die Band, zu der außer Stern noch Kontrabassist David Michaeli und Schlagzeuger Matan Assayag gehören, das dritte Album für die Münchner Plattenfirma ACT. Ist »Tales of Utopia« nun ihr jazzigstes Album? Gadi Stern muss überlegen. »Das ist eine tückische Frage, denn ich bin mir nicht sicher, was ›Jazz‹ für Sie bedeutet. Was ich sagen kann ist, dass es definitiv die entspanntesten und freiesten Aufnahmen waren, die wir je hatten. Wir sind ein bisschen altmodisch vorgegangen, haben in einem einzigen Raum ohne Kopfhörer aufgenommen. Es fühlte sich richtig an, es zu Hause in Tel Aviv aufzunehmen – die letzten Alben hatten wir in Schweden eingespielt. Wir kamen mit unseren Fahrrädern ins Studio und aßen unser hausgemachtes Essen. Eine höchst entspannte Zeit! Ich habe das Gefühl, dass sich das in der Musik zeigt. Vor allem in den Soli, die nicht ›perfekt‹ sind, was auch immer das bedeutet.« Der Pianist stapelt tief: Shalosh ist eine Band, die ihre instrumentalen Fertigkeiten nicht zu verstecken braucht. Metren und Tempi wechseln häufig, eine Ballade mit gestrichenem Kontrabass kann sich in Sekunden in einen wuchtigen Rock- Song verwandeln. Doch »Tales of Utopia« ist homogener als seine Vorgänger. Hatte man in der Vergangenheit zuweilen das Gefühl, dass Shalosh beweisen wollten, dass sie die ungezügelte Kraft ihrer Live-Konzerte auch auf Platte zu bannen wissen, stellt das neue Werk eine gelassenere Angelegenheit dar. »Tales Of Utopia« ist das erste Shalosh-Album ohne Cover-Versionen. Die Songs hangeln sich an einem Narrativ entlang: ein Konzeptalbum, das von christlicher und griechischer Mythologie inspiriert ist. »Man könnte sagen: Es ist eine Jazzoper«, so Stern. »Es basiert lose auf Homers Odyssee, Geschichten aus der Bibel und arabischen Erzählungen. Eine Heldenreise durch das Land, auf der Suche nach einem Utopia. Wir haben die Geschichte dabei als Kompositionswerkzeug verwendet.« Die drei verraten keine Details, aber die Musik hilft. Es fällt nicht schwer, sich einen Reisenden vorzustellen, der durch ein mächtiges Tor staunend eine prunkvolle Königsstadt betritt, deren Trubel ihn fast übermannt (»Entrance to the Great City«) und dem über Umwege und Gefahren schließlich ein glückliches Ende widerfährt. Der abschließende »Wedding Song« ist Shaloshs Party-Tune, inspiriert von nordafrikanischen Rhythmen, einschließlich Klatschen und ekstatischen Gesängen. Zuvor musste der Held einen Sturm auf hoher See überstehen: aus den sacht anbrandenden Wel- len werden bedrohliche Brecher, die Stern mit seinem furiosen Klavierspiel in »Wave« dar- stellt. Ein bisschen vorchristlicher Eskapismus sei den dreien gegönnt – hatten sie ihr letztes Album »Broken Balance« doch noch dezidiert politisch verstanden. »Wir wollen die Dinge frisch halten«, sagt Stern. »Deshalb wird jedes Album hoffentlich anders klingen als das davor. Es gibt noch so viele Dinge, die wir machen wollen: mit Gesang arbeiten, Film, Theater, Tanz, Orchester, Hip-Hop. Die einzige Regel, die wir haben, ist, dass es keine Regeln gibt.«


Shalosh
Tales Of Utopia

ACT, 29.09.

Shalosh

»Children Of The 90s« heißt einer der älteren Songs von Shalosh. Die Band hat ihre Einflüsse, vom rauen Grunge von Nirvana bis hin zum komplex-melodischen Jazz eines Brad Mehldau, nie versteckt. Es hat bis zu ihrem fünften Album gedauert, ehe sich die drei Israelis endgültig von allen Vorbildern freimachen konnten. »Tales of Utopia« klingt noch immer nach Pop, aber raffinierter, fühlt sich noch immer nach der Hitze einer guten Rock-Show an, enthält aber genug nachdenkliche Momente, um als echtes, tiefsinniges Jazz-Album durchzugehen. Das fünfte Album der drei ist ein Meilenstein – für die drei Bandmitglieder genauso wie für den israelischen Jazz, der 2023 attraktiver denn je ist.

Jan Paersch