Tracy Chapman

November 2015 / Seite 2 von 2

Warum ist so jemand nicht in Sicht?

Es ist kompliziert geworden. Wer weiß, ob Martin Luther King heute überhaupt noch die Chance hätte, zu einem Protestführer aufzusteigen? Vielleicht hätte es schon früh eine Diskussion im Netz gegeben, weil irgendjemand eine bestimmte Aussage von ihm veröffentlicht hätte, auf die dann ein Shitstorm gefolgt wäre. Die sozialen Medien sind sehr streng darin, Fehler unvermittelt aufzudecken. Das kann gute Folgen haben. Zum Beispiel, weil man Blender widerlegen kann. Es hat aber auch zur Folge, dass man im Umkehrschluss von Menschen, die etwas Besonderes vorhaben, Perfektion verlangt. Die wird es aber nicht geben. Wir alle machen Fehler. Trotzdem Perfektion einzufordern, kann gefährlich sein.

„Hillary Clinton ist bereit für die Präsidentschaft, und sie ist in meinen Augen auch eine gute Wahl.“

Wann konkret?

Amerika hat gute Chancen, dass auf den ersten schwarzen Präsidenten nun mit Hillary Clinton die erste Frau in diesem Amt folgt. Das gefällt einigen nicht. Und die Affäre um offizielle E-Mails, die sie von ihrem privaten Konto aus geschrieben hat, ist doch im Grunde eher banal.

Sie glauben, das männlich dominierte politische Establishment will verhindern, dass Clinton Präsidentin wird?

Die Republikaner wollen es natürlich auf jeden Fall. Aber ich glaube, Hillary Clinton hat gezeigt, dass sie die richtigen Antworten parat hat. Sie ist bereit für die Präsidentschaft, und sie ist in meinen Augen auch eine gute Wahl.

Die erste Frau im Weißen Haus – wäre das ein so bedeutsamer Schritt wie der erste schwarze Präsident?

Ja. Unabhängig davon, wie sie ihre Präsidentschaft gestalten wird: Es wird ein wichtiges Zeichen für die Frauen in diesem Land sein. Aber wenn ich mir das neue Regierungsteam in Kanada anschaue, ist mit Blick auf die Vielfalt noch einiges möglich.

Dort hat der neue Premierminister Justin Trudeau die wohl bunteste Ministertruppe der Welt zusammengestellt, darunter ein Sikh, ein Inuk und eine Indigene. Wäre das in den USA auch möglich?

Die Vielfalt in den USA ist genauso augenfällig, daher wäre es natürlich wunderbar, wenn sie sich auch in der Regierung widerspiegeln würde. Aber man darf nicht naiv sein. Es gibt in den USA neokonservative Organisationen wie „Citizens United“, die alles dafür tun, dass die Vielfalt in den Machtzentralen abgewürgt wird. Mehr noch, diese Gruppe zeigt ganz offen, dass sie willens ist, den nächsten Präsidenten mithilfe von sehr viel Geld ins Weiße Haus zu befördern. Natürlich soll das ein weißer konservativer Mann sein. Die Organisation zog 2010 bis zum Obersten Gerichtshof, wo die Richter sicherstellten, dass Unternehmen weiterhin Kandidaten finanzieren dürfen – und zwar ohne Beschränkungen. Wenn Sie sich nun anschauen, welche Kandidaten sich auf Seiten der Republikaner für die Präsidentschaft bewerben, sehen Sie, welchen Effekt dieses Urteil auf die politische Kultur hat. Es geht eigentlich nur noch darum, ob jemand Geld hat oder nicht.

Und plötzlich haben Gestalten wie der Milliardär Donald Trump oder der Multimillionär Ben Carson augenscheinlich gute Chancen.

Abgesehen von den wirren politischen Vorstellungen dieser Männer: Es ist einfach nicht fair, dass sich diese reichen Leute mithilfe der so genannten Super-PACs noch reicher machen und sich somit aussichtsreich in ein Rennen begeben, in dem es offensichtlich auf andere Dinge ankommen sollte.

Bei so vielen Missständen: Wissen Sie als politische Aktivistin überhaupt noch, wo Sie anfangen sollen, um die Dinge zu ändern?

Ich will nicht überall mitmischen. Es gibt zwar viele Anfragen, aber ich fokussiere mich auf einige lokale Organisationen in San Francisco, wo ich lebe, sowie auf meine Arbeit für Amnesty International. Aber eines ist wichtig: Ich bin als Sängerin und Songwriterin noch nicht im Ruhestand. Ich schreibe ständig neue Lieder.

Nach so vielen Jahren im Geschäft: Lernen Sie noch neue Dinge über die Kunst des Songwritings dazu?

Oh ja, man lernt nie aus. (lacht) Ich war vor einem Jahr Teil der Jury auf dem Sundance Film Festival, und im Zuge meiner Arbeit dort habe ich mir einige Gedanken darüber gemacht, ob und wie die Kunstformen Film und Musik vergleichbar sind. Ich habe mit vielen Filmemachern gesprochen und gelernt, dass bei der Produktion eines Films sehr viele ökonomische Faktoren im Spiel sind: Es geht um Geld und Ressourcen, schließlich auch darum, sich bei einer komplexen Geschichte auf zwei Stunden zu limitieren. Auch beim Songwriting gibt es Beschränkungen. Wenn ich mich mit meiner akustischen Gitarre hinsetze und schreibe, entstehen zwar keine Kosten. Dafür habe ich aber noch weniger Zeit sowie eine festgelegte Struktur aus Strophen und Refrains. Das ist die große Herausforderung: innerhalb dieser Grenzen kreativ zu sein. Man muss die Ökonomie im Blick haben – und dennoch Kunst entstehen lassen.

Wenn Sie heute Songs wie „Fast Car“ oder „Talkin’ Bout A Revolution“ aufführen, singt und spielt dann die Ökonomin in Ihnen, die ihrem Publikum einen Gefallen tut, oder die Künstlerin Tracy Chapman?

Oh, ganz eindeutig die Künstlerin. Ich mag das Wort aufführen nicht, das würde ja bedeuten, ich schlüpfte in eine Rolle und inszenierte diese Songs. Das will ich nicht. Ich bin keine Schauspielerin, keine Darstellerin. Daher bin ich meinem jungen Selbst dankbar, dass es damals schon Lieder geschrieben hat, die sich heute noch frisch anfühlen und deren Bedeutung mir weiterhin sehr wichtig ist. (überlegt) Man sollte sich generell von der Vorstellung trennen, dass Musiker ihre bekanntesten Lieder ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch seelenlos abspulen. Es mag solche Leute geben, aber sie werden sehr schnell merken, dass ihnen das Publikum abhanden kommt. Menschen, die ein Konzert besuchen, sind auf der Suche nach einem einzigartigen Moment. Sie wünschen sich eine sehr spezielle Verbundenheit zwischen Künstler und Publikum. Es ist meine Aufgabe, diesen Moment herzustellen. Und das gelingt natürlich nur, wenn ich jeden Song, den ich singe, in den Kontext dieses besonderen Abends stelle. Es muss sich jedes Mal wieder neu anfühlen, als sei das Lied nur für diesen einen Anlass geschrieben worden.

So wie „Stand By Me“ bei Letterman.

Genau. Natürlich wussten wir alle, dass das Lied schon millionenfach gespielt und interpretiert wurde. Aber weil er es sich wünschte, ich die Einladung annahm und das Publikum zuhörte, wurde daraus ein sehr persönlicher, einzigartiger Moment. Vielleicht ist Musik die einzige Kunstform, der das so einfach und doch intensiv gelingt.

Zur Person

Tracy Chapman, geboren am 30. März 1964 in Cleveland, Ohio, erhielt im Alter von drei Jahren ihre erste Ukulele von ihrer Mutter. Mit acht brachte sie sich das Gitarrespielen selbst bei, damals entstanden bereits erste Songs. Während ihres Studiums der Anthropologie und Afrikanistik spielte sie erste Gigs und verdiente sich als Straßenmusikerin ein paar Dollar. 1986 wurde sie von einem Musikmanager entdeckt, der ihr einen Plattenvertrag bei Elektra vermittelte. Ihr Debüt wurde ein großer Erfolg, ihr Auftritt beim Tribute-Konzert zum 70. Geburtstag von Nelson Mandela machte Tracy Chapman zu einem Star. Bislang hat sie acht Alben veröffentlich, ein neuntes ist in Arbeit. Tracy Chapman lebt in San Francisco.

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