Gratis-Interview Götz Alsmann

Götz Alsmann

„Das kurze Verlieben ist wie ein Kartoffelbovist.“

Autor/in
Fotos
  • Max Slobodda
Kategorien
Leserbewertung

10. November 2020, Münster. Götz Alsmann hat Zoom bislang nur für vereinzelte Besprechungen benutzt. Während des Interviews in einen Monitor zu sprechen, befremdet ihn nur kurz. Dann redet er mit der ihm eigenen Eloquenz über abgelegene Lokale in Rom, die Kunst des Flanierens und die Zeitlosigkeit von Liebesliedern. Dass das Gespräch deutlich länger als gedacht geht, liegt an einem Thema, über das der promovierte Musikwissenschaftler stundenlang reden kann: Geschichte, Bedeutung und Wirkung des deutschen Schlagers vor und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie währenddessen.

GALORE

Herr Alsmann, wann haben Sie zuletzt ein Album komplett durchgehört?

Am vergangenen Wochenende, gleich mehrere. Das tue ich zumeist aus professionellen Gründen, als Vorbereitung für meine Rundfunksendung. Aber auch zur Entspannung.

Hören Sie die Musik zu Hause im Wohnzimmer?

Nein, in meinem Arbeitszimmer, aus dem ich auch jetzt zu Ihnen spreche.

Über Boxen oder Kopfhörer?

Ich bin kein Typ für Kopfhörer.

Mit Rotwein oder Wasser?

Kommt auf die Tageszeit an.

Gibt es Musik, die den Genuss bestimmter Getränke anregt?

Die gibt es tatsächlich, ja. Bossanova ist definitiv keine Biermusik. Da passt eher ein Sherry. Wobei ich über Tag beim professionellen Hören von Musik keine alkoholischen Getränke zu mir nehme.

Und nach getaner Arbeit, am Feierabend?

Läuft zur Unterhaltung eher selten Musik. Vielleicht mal zum Essen, aber ich brauche keine dauerhafte Musikberieselung. Ein Metzger isst ja auch nicht ständig Wurst.

Ihre Plattensammlung ist gigantisch groß, man spricht von einer fünfstelligen Anzahl von LPs und Singles. Was gibt Ihnen der Besitz dieser Tonträger?

Ich bin seit den 70er-Jahren fasziniert von der Idee, Raritäten zu besitzen. Bei einem Philatelisten sind es die Briefmarken, bei mir die Schallplatten. Es ist ein im Menschen angelegter Drang, Dinge, die ihn faszinieren, jeden Tag berühren zu dürfen. Ich verstehe daher den Gedanken nicht, sich als Kunstliebhaber ein teures Bild zu kaufen und dieses dann in einem Safe zu verstecken. Das finde ich absurd, denn dafür ist Kunst nicht gemacht.

Wie teuer sind die Raritäten, die Sie finden?

Häufig kosten sie nur sehr wenig, ich bin immer wieder erstaunt, wie günstig ich manch sehr seltene Schallplatte erstanden habe. Es gibt da einen Trick: Anbieter aus einer bestimmten musikalischen Fraktion schätzen die anderen Fraktionen nicht sonderlich hoch ein. Hat sich also jemand zum Beispiel auf Rockabilly-Platten spezialisiert, dann sind ihm europäische Hot-Jazz-Platten der 20er-Jahre nicht ganz so wichtig. Was sich in einer für mich attraktiven Preisgestaltung niederschlägt.

Welches Hochgefühl erleben Sie, wenn Sie eine Rarität ergattert haben?

Da kommen verschiedene Komponenten ins Spiel. Es ist zunächst einmal ein gutes Gefühl, eine Musik gefunden zu haben, die mir gefällt und die meine Zirbeldrüse animiert. Befriedigend ist zudem die Feststellung, mit einem bestimmten Kauf ein Sammlungskapitel abschließen zu können – das bedeutet dann das Ende einer nicht selten viele Jahre dauernden Suche. Auch überlege ich mir, ob und wie ich diese Musik in meine Radiosendung einbauen könnte. Und schließlich stellt sich die Frage, ob das Stück Arrangements bietet, die ich nutzen könnte, oder ob ich es als solches mal mit der Band probieren sollte.

Sie denken also als Fan, Sammler, DJ und Musiker.

Genau, und ich denke alle diese vier Rollen gleichzeitig.

Das hilft sicher bei der Entscheidungsfindung, wenn es dann doch mal teurer wird.

In der Tat, denn muss ich dann doch mal viel Geld für einen Kauf in die Hand nehmen, hilft es, zu überlegen, ob ich diese Platte zum Beispiel für meine Edition „Down At The Ugly Men’s Lounge“ nutzen kann, auf der wir seltene Musik wieder zugänglich machen. Spätestens nach vier, fünf solcher Verwertungsstationen finde ich genügend beruhigende Argumente, mit meinen finanziellen Ressourcen gut umgegangen zu sein.

Das ist aber schon ’ne Art Selbstbeschiss, oder?

Natürlich! Wie heißt der Spruch: Der Arm eines Künstlers muss nur so lang sein, dass er sich selbst damit auf die Schulter klopfen kann.

Sie haben zuletzt Alben in New York, Paris und Rom aufgenommen. War die Arbeit in diesen Städten ein Mittel, um dort Zeit verbringen zu können?

Nein, so weit würde ich nicht gehen, dafür ist mein Interesse an der jeweiligen Musik schon zu alt. Zu Paris hatte ich schon vorher eine starke Verbindung, interessant für mich war Rom, denn mein Aufenthalt dort war meine erste Reise nach Italien überhaupt.

Tatsächlich?

Ja, mit 60.

Sie waren also noch nie in Venedig oder Florenz, auf Capri oder in der Toskana?

Nein, denn: Privat reise ich fast überhaupt nicht. Ich kann Urlaube genießen, aber ich fahre nur ungern weit weg. Weder mag ich die Fliegerei noch bin ich ein guter Automobilist. Normalerweise bin ich beruflich so viel unterwegs, dass mir in der freien Zeit nicht der Sinn nach weiteren Touren steht. Während des ersten Lockdowns im März war ich drei Wochen am Stück zu Hause. Ich habe mal in alten Kalendern nachgesehen, wann ich zum letzten Mal so lange nicht unterwegs gewesen bin: Das war 1985, da war ich Ende 20. Die drei Wochen zu Hause empfand ich daher als einen seltenen Luxus. Warum also mein Ränzlein schnüren und raus in die Weltgeschichte?

Wenn Sie auf Deutschlandtournee sind oder sich für Aufnahmen in einer Stadt befinden, wie ausgiebig erleben Sie diese Orte?

Natürlich ist man dort, um zu arbeiten. Die Zeit ist begrenzt, die freie Zeit sowieso. Dennoch entwickelt man mit den Jahren eine Fähigkeit, als Flaneur oder als jemand, der an einem Café-Tischchen sitzt und auf die Leute schaut, zu kapieren, wie das Flair einer Stadt funktioniert. Wenn ich eine Stunde lang irgendwo sitze und die Leute an mir vorbeiziehen lasse, dann sehe ich sehr viel. Vielleicht mehr als andere, die diese Fähigkeit nicht besitzen und mit einem Reiseführer oder dem Smartphone in der Hand herumlaufen, um den Katalog touristischer „Must-haves“ abzuarbeiten.

„Ich brauche keine dauerhafte Musikberieselung. Ein Metzger isst ja auch nicht ständig Wurst.“

Haben Sie diese touristischen Hotspots bei Ihrem ersten Aufenthalt in Rom links liegen gelassen?

Ich war ja kaum zehn Tage dort und hatte viel zu tun. Ich glaube, ich hatte gerade mal einen Dreivierteltag „zbV“, wie man so sagt.

Heißt?

Zur besonderen Verfügung. Den habe ich genutzt, um zwanglos durch die Straßen in dem Viertel, in dem sich unser Hotel befand, zu flanieren. Hinzu kam dann noch der Tag, an dem wir zusammen mit einem einheimischen Fotografen die Bilder für das Cover gemacht haben. Unsere Pause begann an der Piazza Navona, wo es zu dieser Zeit, rund um Ostern, sehr voll war. Der Fotograf ging dann einmal rechts, einmal links, noch mal rechts – und plötzlich erreichten wir ein Lokal in einem menschenleeren Innenhof, nur eine alte Oma mit Pyjama und Einkaufstasche schlurfte vorbei. So ist das mit den Einheimischen, selbst in den größten Ballungszentren kennen sie diese geheimen und verwunschenen Plätze, sonnenbeschienen und von alten Bäumen beschattet, mit einem alten Antiquariat gegenüber dem Lokal. Da sitzt man dann in dieser Oase mitten im brausenden Rom und denkt sich: Ja, ich verstehe, was diese Stadt auszeichnet.

Klingt wie ein Klischee.

Ganz wunderbar! Wobei diese Klischeebildung häufig auf alten Filmen basiert. Diese zeigen ein Ideal, und dieses sucht insgeheim auch der Tourist, der für sich in Anspruch nimmt, „anders“ zu reisen. Am Ende erzählt auch er begeistert vom kleinen, kaum bekannten Weinlokal, wo es einen gekühlten Weißwein gab, wie man ihn noch nie zuvor getrunken hat. Aha, denke ich dann, so sehr „anders“ reist dieser Mensch also doch nicht.

Sie haben vom Flanieren und vom Flaneur gesprochen, geht diese Kulturtechnik des Herumschlenderns in der von der Digitalisierung gesteuerten Betriebsamkeit verloren?

Auch wenn ich jetzt wie mein eigener Urgroßvater klinge, aber ich denke, dass sehr viel davon verloren geht. Nicht nur auf Reisen, sondern auch in der eigenen Stadt: Es gibt viele Städte, die einem das Flanieren nicht leicht machen. In Münster, wo ich lebe, lässt es sich noch ganz gut flanieren, aber das gilt bei Weitem nicht für jede Stadt.

„In der Liebe schützt selbst die größte Erfahrung nicht vor Torheit.“

Was benötigen Sie fürs Flanieren?

Hilfreich ist schönes Wetter und ein nicht zu vollgepackter Erledigungszettel, denn das Flanieren ist ja eher eine nicht-zielführende Angelegenheit. Was ich dann benötige: Menschen, die ich mir angucken kann. Diskret, natürlich. Manchmal gucken sie zurück, einige erkennen mich, lächeln oder zwinkern freundlich. Andere rufen: „Mensch, Götzi, das gibt’s doch gar nicht, was machst du denn hier? Können wir ein Foto machen?“ Ich sage dann: „Ich bin aber privat hier.“ Dann sagt der andere: „Ah, ich auch!“ Die Grundvoraussetzung jedoch ist, dass der Flaneur unvoreingenommen ist und nichts erwartet.

Was der Wirtschaft nicht gefällt, denn diese provoziert ja immerzu Erwartungen.

Weshalb der Flaneur in der französischen Literatur häufig ein junger Mann aus saturierten Verhältnissen ist, der einfach keine Lust auf Arbeit hat.

Ist der deutsche Spaziergang eigentlich vergleichbar mit dem französischen Flanieren?

Das deutsche Spaziergehen findet eher an Orten statt, an denen es keine Geschäfte gibt. Und zu Zeiten, wenn wenig los ist. Der Spaziergang hat folgende Grundvoraussetzung: Wir müssen mal an die frische Luft, wir brauchen Bewegung. Nicht, dass wir uns falsch verstehen, ich bin ein begeisterter Spaziergänger. Aber es gibt eine andere Zielsetzung: Der Spaziergang dient der allgemeinen Gesundheit. Weshalb sich der Spaziergänger einen dicken Mantel anzieht, um sich bloß nicht zu erkälten, während sich der Flaneur einen schönen Schal um den Hals wirft, damit alle erkennen mögen, dass hier jemand ohne Ziel mit größter Eleganz einherschreitet.

Ihr neues Album widmet sich der Liebe oder vielmehr der: „L.I.E.B.E.“ Sollte man die Liebe mit Blick auf dieses ausklingende Jahr in Großbuchstaben schreiben?

Zumindest ergab sich 2020 eine Situation, die es möglich gemacht hat, die persönlichen Verstrickungen in Sachen Liebe einer erneuten Überprüfung zu unterziehen.

Das gilt für diejenigen, die die Liebe bereits gefunden haben.

Für alle, die sie suchen, war 2020 kein einfaches Jahr.

Wie ist denn diese Liebesüberprüfung im Hause Alsmann ausgefallen?

Wie bereits erwähnt, war ich so viel zu Hause wie noch nie. Meine Frau und ich sind seit 33 Jahren verheiratet und ich darf sagen: Ich habe die Zeit daheim als wundervoll empfunden. Eine Herausforderung war es manchmal dennoch, weil einige der üblichen Mechanismen nicht mehr funktioniert haben, zum Beispiel dieser Gastspielreisen-Rhythmus nach dem Motto: Ich fahre am Dienstag und komme am Sonntag wieder.

Als GALORE-Abonnent*in erhalten Sie nicht nur sechs Ausgaben im Jahr frei Haus und eine Prämie, sondern auch kostenlosen Zugang zu unserem Online-Archiv mit mehr als 1100 Interviews - darunter auch die jeweils aktuellen.

Jetzt GALORE abonnieren

Seite 1 von 2