Gratis-Interview Carolin Emcke

Carolin Emcke

„Es gibt keine Obergrenze für Gleichheit.“

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  • Jonas Holthaus
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01. August 2019, Berlin. Die politische Autorin Carolin Emcke sitzt schon bei einer Apfelschorle im Café Südblock am Kottbusser Tor. Sie wirkt aufgeräumt, offen, interessiert. Thema des Treffens ist ihr jüngstes Buch „Ja heißt ja und…“, in dem sie die #MeToo-Debatte reflektiert und die komplexen Felder von Macht, Lust und Wollen durchleuchtet. Selbst als das Aufnahmegerät längst ausgeschaltet ist, setzt sich das Gespräch noch fort.

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Frau Emcke, können wir über Bademäntel reden?

Ja klar. Haben Sie einen?

Ja, ein Erinnerungsstück. Aber worauf ich eigentlich hinauswollte: Früher waren Bademäntel für mich mit Grandezza verbunden, Cary Grant am Pool von Cannes…

Ja, die Assoziation Cary Grant kann ich nachvollziehen. James Dean wiederum hätte man sich nicht im Bademantel vorgestellt. Aber ich gebe zu, mein Verhältnis zum Bademantel war bis zu diesen #MeToo-Geschichten durchaus entspannt.

Und jetzt ist er ein Sinnbild für männlichen Machtmissbrauch?

Harvey Weinstein, Louis C.K., Dominique Strauss-Kahn – so viele dieser Szenen, von denen wir gelesen haben, handeln von übergriffigen Männern in Bademänteln. Davor fand ich, dass er einfach nur ein bequemes Kleidungsstück ist.

Aber damit gestattet man doch den Schurken, einem etwas eigentlich banal Bequemes kaputtzumachen.

Ja, das ist der psychisch-emotionale Kern der Debatten, die wir über Woody Allen, James Levine oder Michael Jackson führen. Die Frage ist, wie gehen wir um mit Geschichten von Personen, die wir aus der Ferne geschätzt haben, ohne sie zu kennen, von denen wir plötzlich erfahren, dass sie mutmaßlich Macht missbrauchen, dass sie sexuell übergriffig oder gewalttätig sind? Zum einen wird uns natürlich das Bild dieser Personen dadurch beschädigt, es gibt einen Riss in der Bewunderung. Die andere Frage ist: Was passiert mit deren Werk?

Haben Sie für sich eine Antwort?

Da muss man sich jeden Fall einzeln anschauen. Die sind sehr unterschiedlich. Nehmen wir Michael Jackson. Seine Musik habe ich geliebt. Und ich habe, wie vermutlich viele andere auch, die über längere Zeit auftauchenden Anschuldigungen des Missbrauchs von Jungen verdrängt. Ich habe nicht richtig hingehört, weil ich vermutlich nicht hinhören wollte. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass ich Michael Jackson selbst eher als Opfer einer brutalen, schrecklichen Kindheit gesehen habe. Als ob die Tatsache, dass jemand als Kind misshandelt wurde, verunmöglichen würde, dass er später selbst Kinder missbraucht. Wirklich geändert hat sich das erst, als ich die Dokumentation „Leaving Neverland“ gesehen habe, die mit, wie ich finde, erschütternder Glaubwürdigkeit zwei Opfer von Jacksons Missbrauch erzählen lässt.

Aber was heißt das nun für sein Werk?

Ich würde nicht fordern, dass ein Radiosender seine Musik nicht mehr spielen darf. Aber ich könnte heute dazu nicht mehr tanzen.

Weil das bedeuten würde, seine Taten auszublenden?

Gar nicht als eine Art Selbstverbot. Sondern weil ich das Wissen nicht mehr ausblenden kann. Die Assoziationskette, die ausgelöst wird, wenn ich seine Musik höre (noch dazu eine, die ja von sexuellen Anspielungen und Lauten lebt), lässt schlicht Ekel hochkommen.

Viele große Künstler sind oder waren Scheusale. In ihrem brillanten Netflix-Special „Nanette“ zerlegt die australische Bühnenkünstlerin Hannah Gadsby zum Beispiel Pablo Picasso als gestörten Frauenfeind. Und wirft die Frage auf, ob der Kubismus trotzdem eine Errungenschaft bleibt.

Ich habe keinen starken Bezug zur Bildenden Kunst, Musik spielt in meinem Leben die zentrale Rolle. Nehmen wir daher ein Beispiel aus der Musikwelt: den Dirigenten James Levine, der wegen sexuellen Missbrauchs 2018 seine Stelle an der New Yorker Met verloren hat. Da ist zunächst die Musik selbst, sein Dirigat. Ich kann in der Musik nichts entdecken von der Art, wie er Studenten ausgebeutet, benutzt, manipuliert und eben auch genötigt hat. Man könnte also sagen, die Musik bleibt unschuldig, das Werk unbelastet. Trotzdem läuft bei mir während des Hörens ein Film mit dem Wissen über die entsetzlichen Anschuldigungen ehemaliger Schüler und Studenten ab. In der Musik hat das vielleicht keine Spuren hinterlassen, in meinem Kopf aber sehr wohl.

Lassen sich diese Spuren wieder überschreiben?

Gute Frage. Der Fall ist noch so frisch, dass ich das nicht weiß. Ich habe über James Levine eine Kolumne geschrieben, dass ich mir mit dem neuen Wissen um seine Taten seine Musik noch einmal angehört hätte. Worauf es sofort wütende Reaktionen gab, wieso ich die Musik überhaupt noch hören würde? Ich finde aber, das Werk besitzt zunächst einmal eine eigenständige Qualität. Was sich ihm dann einschreibt, gilt es zu prüfen.

Wieso reden wir eigentlich im #MeToo-Kontext fast ausschließlich über Fälle aus der Kulturindustrie?

Weil es Figuren sind, die wir zu kennen glaubten. Natürlich gibt es Fälle aus der Dienstleistungsbranche, dem Gesundheitswesen, in den Pflegeeinrichtungen, in der Landwirtschaft. Das sind die Bereiche, über die wir viel zu wenig reden, über die es viel zu wenige Recherchen gibt. Wenn wir von solchen Fällen erfahren, fühlen wir uns zwar auch betroffen. Aber bei den prominenteren Figuren glauben wir eher, uns ins Verhältnis setzen zu können.

In jedem DAX-Konzern dürfte sich Missbrauch ereignen.

Da stimme ich Ihnen zu. Warum hören wir nichts aus der Deutschen Bank, von Siemens oder Lufthansa? Es ist extrem unwahrscheinlich, dass es in anderen Systemen, die ebenfalls hierarchisch organisiert sind, nicht auch zu solchen Übergriffen kommt. Ob Frauen oder Männer sich trauen zu sprechen – man muss immer wieder daran erinnern, dass auch Männer und Jungen Opfer von sexueller Nötigung und Gewalt werden – hängt vom sozialen oder kulturellen Kontext ab. Ob jemand sich beschützt weiß, ob die Person davon ausgehen darf, dass ihr geglaubt wird. Je marginalisierter, je rechtlich schutzloser eine Person und je prekärer das Beschäftigungsverhältnis ist, desto unwahrscheinlicher wird es, dass jemand sich zu wehren traut. Ich bin gespannt, von welchen Fällen wir noch hören werden.

„Frauen tauchen im Film höchst selten als autonome, selbständige, begehrende Subjekte auf.“

Die #MeToo-Debatte ist einerseits ein feststehender Begriff, fast schon musealisiert, auf der anderen Seite hat sich an den Strukturen nicht so wahnsinnig viel verändert, oder?

Ja, wir erleben diese Ungleichzeitigkeiten. In bestimmten, vor allem urbanen Lebenswelten und Zusammenhängen gibt es ein erhöhtes Bewusstsein. Das erkennt man allerdings auch an der starken Abwehrhaltung, die spiegelbildlich bestätigt, dass sich etwas verändert hat. Aber in Bereichen wie beispielsweise der Bundeswehr, der Polizei, in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen oder Großküchen hat sich mutmaßlich noch nicht viel verändert. Aber wir müssen auch geduldig sein. Wir sprechen über einen enormen Bewusstseinswandel und Prozess gesellschaftlichen Lernens, der da verlangt wird.

Geduld – die ist in diesem Zusammenhang nicht einfach aufzubringen.

Oh, das klang vielleicht missverständlich: Mit Geduld meine ich nicht, man sollte ertragen, wenn man missbraucht oder misshandelt wird. Ich meine, dass es Zeit brauchen wird, bis die Wirkungen dieser Diskussionen in verschiedene Kontexte und Milieus und Generationen gedrungen sind.

Welchen Bewusstseinswandel meinen Sie konkret?

Letztlich geht es doch darum, dass Sexualität und Lust etwas mit Wechselseitigkeit zu tun haben. Mit Zustimmung und Wollen. Traditionelle Bilder von Männlichkeit und machistischen Formen von Sexualität haben eine Einseitigkeit des Blicks und des Begehrens geprägt. Durch die #MeToo-Debatte erfährt diese Perspektive insofern eine Erschütterung, als sich gezeigt hat, dass auch mächtige Personen sich eben nicht alles herausnehmen dürfen. Und dass auch Frauen mit weniger Status, weniger Privilegien, sich erfolgreich wehren können. Vergleichen Sie den Fall Harvey Weinstein mit dem von Bill Clinton. Die Vorwürfe bezogen sich damals ja nicht nur auf Clintons Affäre mit Monica Lewinsky, sondern es gab eine Reihe von Frauen, die ihm Nötigung und sexualisierte Gewalt vorgeworfen haben. Ich glaube nicht, dass es für Clinton heute noch so glimpflich – in Anführungszeichen gesetzt – ausgehen würde.

Aber gegen diese Ächtung scheint jemand wie Donald Trump komplett immun zu sein.

Bei dem Wort „Ächtung“ zucke ich etwas. Die Kategorie von Fällen, über die wir hier reden, reicht ja über Sexismus oder irgendeinen dummen Spruch hinaus. Wir sprechen von justiziablen Anschuldigungen, bei denen es rechtstaatlich zu klären gilt, was wirklich geschehen ist. Ich gehöre nicht zu denen, die per se jedem Verdacht glauben – ohne präzise, dichte Beschreibungen und Indizien. Ich denke, auch der angeschuldigten Person muss die Möglichkeit gegeben werden, die Behauptungen zu entkräften. Natürlich würde ich in jedem Fall versuchen, mit viel Wohlwollen und Empathie diesen Vorwürfen oder Beschreibungen von Erlebnissen zu begegnen, aber wenn es um justiziable Dinge geht, ist soziale Ächtung nicht das, was ich mir wünsche.

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