André Wiersig

Februar 2020 / Seite 2 von 3

Sie sagen, dass 70 Prozent der Leistung beim Überwinden einer solchen Marathonschwimmstrecke im Kopf entstehen. Kann man sein Kälteempfinden tatsächlich ausschalten?

Wir Menschen, und da schließe ich mich explizit mit ein, sind heute vollkommen verweichlicht und nutzen nicht im Ansatz das Potenzial, das unser Körper besitzt. Wer ist heute schon noch darauf eingestellt, seine Komfortzone freiwillig weit hinter sich zu lassen? Das warme Wasser kommt aus der Leitung, Lebensmittel liegen im Kühlschrank bereit. So sieht das Leben für die meisten von uns aus. Ich glaube nicht, dass vor 150 Jahren jemand gesagt hätte „Mir ist kalt“ oder „Ich habe Hunger“. Denn das war damals quasi der Normalzustand.

Es gibt aber doch einen Unterschied zwischen „Ich beiße kurz die Zähne zusammen“ und der Tatsache, den Körper zwölf Stunden lang Wassertemperaturen von neun Grad Celsius auszusetzen.

Auch da sind wir wieder bei der Komfortzone. Wenn ich durch den Nordkanal von Nordirland nach Schottland schwimme, dann hat das nichts mit körperlichem Wohlbefinden zu tun, wie wir es kennen. Ich war ja freiwillig in dieser Situation und kreierte mir ein ganz persönliches Wohlbefinden, indem ich mich komplett auf diesen Moment, auf das Wasser eingelassen habe. Dann stellten sich tatsächlich auch Glück, Zufriedenheit und Wohlbefinden ein, selbst unter solchen extremen Bedingungen.

Gab es Momente, in denen Sie merkten, dass die Kälte gefährlich wurde?

Nur einmal, als ich zur Vorbereitung in einem neun Grad kalten See namens Loch Lomond in Schottland schwamm. Ansonsten nicht wirklich, denn die Kälte ist schon vom ersten Augenblick an beißend, und jeder Teil deines Körpers sagt dir: Ich muss sofort hier raus. Aber du hast ja trainiert, diese Situation auszuhalten. Also gibt es kein Zurück mehr. Hin und wieder lese ich in den Medien, ich hätte die Meerengen „bezwungen“. Das ist aber völliger Blödsinn. Du bezwingst da gar nichts. Wenn überhaupt, dann bezwingst du dich selbst. Und das lohnt sich, denn wer ist schon während eines Taifuns in Japan mitten im Ozean rumgeschwommen?

Was faszinierte Sie in diesen besonderen Momenten?

Du spürst den Ozean – diesen riesigen, Milliarden Jahre alten Organismus, aus dem alles Leben entsprang – vollkommen ungefiltert und darfst für ein paar Stunden Teil davon sein. Für mich sind solche Momente ein großes Privileg. Ich trage eben keinen Neoprenanzug, habe keine Ausrüstung oder zwei andere Leute neben mir. Ich merkte sofort, wenn ich in eine Strömung geriet und das Wasser dort zwei, drei Grad kälter oder wärmer wurde. Stieß ich auf eine Qualle, gab es sofort eine Rückmeldung auf meiner Haut. Schwamm da ein Stück Plastik rum, merkte ich das auch unmittelbar. Deswegen nimmt jeder, der so etwas macht, auch eine riesige Portion Demut mit. Du bist da draußen unglaublich verletzlich. In jeder Hinsicht.

Sie schwammen häufig auch stundenlang in absoluter Dunkelheit. Welche Rolle spielt die Angst?

Unheimliche Situationen kann man ebenfalls trainieren, um dadurch seine Angst zu besiegen. Du musst dir vorher einfach bewusst machen, dass du nachts schwimmst, mit Tausenden Metern Wasser unter dir. Dass du vielleicht von Quallen zerstochen wirst, Haie um dich herumschwimmen werden. All das sind Szenarien, die dir mit hoher Wahrscheinlichkeit begegnen werden.

Und da kann man sich drauf einstellen?

Nur bedingt. Aber wenn du im Trainingslager auf Mallorca schwimmst und ein paar Quallen im Wasser siehst, dann musst du eben auch mal rein in die Meute. Viele Leute belächelten mich dafür, aber ich habe das einfach gemacht. Klar kannst du dich nicht gegen das Gift der Nesseln sensibilisieren, das tut jedes Mal höllisch weh. Aber dadurch weißt du irgendwann, was auf dich zukommt, und eliminierst so nicht nur die Ungewissheit, sondern auch einen Großteil der Angst.

Ein wichtiger Baustein während der Vorbereitung war Ihr Boot Camp auf Mallorca. Was und wie haben Sie dort trainiert?

Der Fokus lag auf schwimmspezifischen Übungen zur Kraftausdauer und den unterschiedlichsten Erschöpfungsszenarien. Im Grunde geht es für jeden, der sich an „Ocean’s Seven“ probiert, um die Frage, welche Leistung man selbst bei der größtmöglichen Erschöpfung noch abrufen kann. Ich musste mich also zur Vorbereitung durch extrem lange und zahlreiche Einheiten so schnell wie möglich in diesen Erschöpfungszustand versetzen. Danach konnte ich meine Arme nicht mehr richtig heben, konnte mich nicht mehr alleine anziehen. Aber ich bin trotzdem noch vier Stunden weitergeschwommen. Dich kontrolliert bei dieser Plackerei auch niemand, da steht kein Coach am Beckenrand. Du bist fast die ganze Zeit komplett allein, vertraust dir selbst, machst das, was du dir vorgenommen hast. Hört sich einfach an, ist es aber nicht.

Wie lässt sich so ein Projekt mit dem Familien- und Berufsleben vereinbaren?

Um das Training so effektiv wie möglich zu gestalten, habe ich meinen Trainingsplan am Reißbrett entworfen. Und während der Zeit, die ich mit meiner Familie verbrachte, habe ich nicht im Internet gesurft, habe nicht unsinnig am Handy rumgespielt oder mich sonst irgendwie abgelenkt. Ich habe versucht, diese Momente so intensiv und bewusst wie möglich zu erleben. Quality time eben!

Für die längste Strecke, die 44 Kilometer des Kaiwi-Kanals zwischen zwei Inseln von Hawaii, schwammen Sie 18 Stunden und 26 Minuten. Wie läuft so ein Tag im Wasser ab?

Im Grunde ist das wie ein langer Spaziergang. Du gehst einfach ins Wasser und schwimmst und schwimmst und schwimmst. Wobei niemand weiß, wann oder ob du ankommen wirst.

„Der Ozean konnte mit mir tun und lassen, was er will. Und das hat er meistens auch gemacht.“

Das klingt zu einfach für das, was Sie dort geleistet haben.

Vor Ort war mein Schwager Jürgen immer mit dabei. Du organisierst dir noch jemanden, der das Begleitboot fährt, und sprichst mit dem Kapitän den genauen Startort und -zeitpunkt ab. Alles, was du unterwegs benötigst, vor allem die Verpflegung, musst du vorher organisieren. Am Tag selbst ist dann Schluss mit dem ganzen Gequatsche: Mitten in der Nacht stehst du am Strand von einer Hawaii-Insel. Es ist stockfinster, du bist allein – und dann geht's los.

Hatten Sie Rituale, bevor es ins Wasser ging?

Nein. Ich bin grundsätzlich ein eher unaufgeregter Typ. Wobei, nicht immer. Einmal im Jahr fahre ich mit meiner Tochter in den Vergnügungspark, und wenn wir dort auf der Achterbahn unterwegs sind, bekomme ich schon beim Anstehen feuchte Hände. Und ganz oben mache ich mir immer fast in die Hose.

Das Marathonschwimmen ist extrem anstrengend. Wie füllen Sie auf der Route Ihren Energiehaushalt auf?

Dafür ist das Beiboot da: Alle halbe Stunde streckte mir Jürgen einen langen Kescher entgegen, in dem hochkalorische, für Ausdauersportler entwickelte Getränke lagen. Ich brauchte viel Energie, die ich möglichst einfach herunterschlucken konnte. Nur einmal, zwischen O’ahu und Moloka’i, musste ich auf Hühnerfrikassee vom Vortag ausweichen, weil der Rest schon aufgebraucht war. (lacht.)

Hat man bei Distanzen von mehr als 50 Kilometern im offenen Meer überhaupt das Gefühl voranzukommen?

Nein. Aber das brauchte ich auch gar nicht. Du bist einfach da und schwimmst, bis irgendwann das andere Ufer vor dir liegt. Du siehst ja sowieso nichts, denn unter dir ist alles dunkel oder blau. Selbst das Boot siehst du meist nicht, denn es fährt in der Regel nicht direkt neben dir, vor allem dann nicht, wenn die Wellen hoch sind, da ansonsten die Gefahr bestünde, vom Boot erschlagen zu werden, sollte es kentern.

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