73. Int. Filmfestspiele Berlin

Reale Bären

Reale Bären

Bei den 73. Internationalen Filmfestspielen ging es viel und oft schonungslos um Gewalt. Kaum ein kriegerischer Konflikt der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, der nicht in der ein oder anderen Sektion filmisch verarbeitet wurde, sei des Jom-Kippur-Krieg 1973 („Golda“, Special Gala), der Iran-Irak-Krieg 1980 („Die Sirene“, Panorama), die Belagerung Sarajevos („Kiss the Future“, Special Gala) oder der islamistische Terror in der Sahelzone („Sira“, Panorama). Sean Penns Kiewer Elogen auf den ukrainischen Präsident Selenskyj in „Superpower“ (Special Gala) schrammten sogar hart am Propagandafilm vorbei.

Fast völlig frei davon war der diesjährige Wettbewerb. Realitätsferne oder gar Eskapismus konnte man ihm dennoch nicht vorwerfen. Im Gegenteil, Jurypräsidentin Kristen Stewart und ihr Team pickten für die sieben Silbernen und den einen Goldenen Bären zielsicher die Filme aus den 19 Konkurrierenden heraus, die die Realität ihrer Protagonisten zu verstehen und zu spiegeln verstanden – egal, wie abstrus diese Realität auf den ersten Blick auch zu sein schien.

Kamerafrau Hélène Louvart bekam den Silbernen Bären für ihre herausragende Leistung in dem französisch-belgisch-polnischen-italienischen Drama „Disco Boy“ (Regie Giacomo Abbruzzese), nicht nur, weil sie per Hitzebildkamera eine neue Perspektive auf Krieg und Töten gefunden hat, sondern ebenso intensiv den Schrecken als traumhafte Tanzszene zu verarbeiten wusste. Beides übrigens mithilfe von Schauspieler Franz Rogowski.

Den Silbernen Bären für das beste Drehbuch an „Music“ von Autorin und Regisseurin Angela Schanelec zu vergeben, mochte zunächst so unverständlich scheinen wie das an den Ödipus-Mythos angelehnte Werk selbst. Kaum ein Film auf diesem Festival machte es dem Publikum per zerrissener Story so schwer wie „Music“. Andererseits traute sich auch kein anderer Film, sich so sehr auf die Kreativität, die Intelligenz und das Interpretationsvermögen jedes einzelnen Zuschauers zu verlassen.

Dass die beiden Bären für die besten Darstellungen an Menschen gingen, deren Filmcharaktere sich vehement für die Anerkennung ihrer Realität und Identität einsetzen, ist wohl kein Zufall. Die österreichische Schauspielerin Thea Ehre konnte viele ihrer eigenen Erfahrungen als Transfrau in die Nebenrolle als Polizei-Lockvogel Leni in Christoph Hochhäuslers Drogen-Krimi „Bis ans Ende der Nacht“ einfließen lassen. Der zur Drehzeit siebenjährigen Sofia Otero gelingt es in dem spanischen Familiendrama „20.000 especies de abejas“, sich emotional so gut in einen Jungen, der ein Mädchen sein möchte, zu versetzen, dass sich kaum ein Zuschauer ihrer Not als Aitor/Lucia entziehen konnte.

Der französische Regisseur Philippe Garrel lehnte seine Familienkomödie „Le grand chariot“ an die Lebensgeschichte seines puppenspielenden Vaters Maurice an und besetzte sie mit seinen drei Kindern Louis, Esther und Lena. Für diese doppelte Spiegelung der Wirklichkeit erhielt er den Silbernen Bären für die Regie.

Der Preis der Jury in Form eines Bären wurde an den portugiesisch-französischen Spielfilm „Mal Viver“ vergeben. In ihm streiten sich fünf Frauen einer Familie um das frisch geerbte Hotel an der portugiesischen Nordküste, das mit seiner verwitternden 60er-Jahre-Pracht einer der schönsten unwirklichen Handlungsorte war. Gleichzeitig zu „Mal Viver“ drehte Regisseur João Canijo mit „Viver Mal“ die Geschichte aus der Sicht der Hotelgäste - zu sehen auf dem Festival in der Sektion Encounters.

An Christian Petzolds grantiges Jungautoren-Drama „Roter Himmel“ wurde der Große Preis der Jury verliehen. Womit sich auch für den dritten Film der Berliner Schule in diesem Wettbewerb, neben „Music“ und „Bis ans Ende der Nacht“, die reale Chance erhöht, auch außerhalb Deutschlands gesehen zu werden.

„Wenn man zu viel darüber nachdenkt, was etwas ist, übersieht man, was es mit einem macht“, beschrieb Kristen Stewart das Gefühl, das sie beim Sehen von „Sur l’Adamant“ hatte. Das titelgebende Schiff Adamant ist eine schwimmende Tagesklinik für Menschen mit psychischen Problemen in Paris. Der französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert ist bekannt dafür, gänzlich in die Objekte seiner Betrachtung abzutauchen und die mit einer Mischung aus Neugier, Geduld, Respekt und einen liebevollen Blick zu betrachten. Für dieses Talent hat er bei den 73. Internationalen Filmfestspielen in Berlin nun den Goldenen Bären gewonnen.

Bild: © Richard Hübner / Berlinale 2023

Edda Bauer