74. Internationale Filmfestspiele Berlin

Heiter zerstreute Bären

Heiter zerstreute Bären

Foto: Mati Diop, Lupita Nyong'o © Ali Ghandtschi / Berlinale 2024


Ein bisschen ratlos lassen die 74. Internationalen Filmfestspiele ihr treues Berliner Publikum und die sonst gern aufgebrachte internationale Filmpresse zurück. Kein überzeugtes Ja hat einer der 20 Filme im Wettbewerb ausgelöst, aber auch keiner ein kräftiges Nein.

Es gab ein gemeinschaftliches „Oh, jo“ für die gewitzt anrührende Altersromanze „Keyke mahboobe man“ (My Favourite Cake), die so viele Seitenhiebe auf die derzeitige Regierung im Iran enthielt, dass dem Regie-Duo Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha prompt die Anreise zum Festival verboten wurde. Und ein erstauntes „Oje“ machte die Runde angesichts Andreas Dresens zum Tode verurteilter Mutter in „In Liebe, Eure Hilde“, die ausschließlich von mitfühlenden Nazi-Schergen umgeben ist. Dass dafür diesmal kein Bär herausspringen wird, wie 2022 der Silberne für Hauptdarstellerin Meltem Kaptan „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“, war nach 124 langwierigen Filmminuten schnell klar.

Dabei war die siebenköpfige Jury unter der Leitung von Schauspielerin Lupita Nyong’o recht leicht zufrieden zu stellen, wie die Silbernen Bären für den zweiten und den dritten Platz beweisen. Der Große Preis der Jury wurde dem südkoreanischen Regisseur und Berlinale Urgestein Hong Sansoo überreicht. Er schickt in „Yeohaengjaui pilyo“ (A Traveler's Needs) Isabelle Huppert als Französischlehrerin mit Blockflöte durch Seoul und lässt sie auf einheimische Gepflogenheiten prallen. Sogar Hong selbst zweifelte mit der schweren Trophäe in Hand daran, ob das nicht „too much“ für so eine kleine, wenn auch originelle Idee war.

Der Franzose Bruno Dumont hingegen fährt in seinem Film „L'empire“ alles auf, was die KI ausspuckt, wenn man Neues Testament, Krieg der Sterne, französische Opalküste, Raumschiffe und große französische historische Gebäude eingibt. Das Ergebnis ist so heiter absurd wie Dumonts vierteilige Krimiserie „P’tit Quinquin“, die seit 2014 immer wieder vom Sender Arte ins Programm gehievt wird. Vielleicht ab demnächst zusammen mit „L’empire“, gibt es doch einige Personalüberschneidungen. Für den Preis der Jury (ehemals Alfred Bauer-Preis) bedankte sich der Silberne Bär standesgemäß via KI bei der Jury, dass er an so einen Film verliehen wurde, denn „ein Kinofilm hat kein Geschlecht und keine Hautfarbe.“

Die beiden Bären für die Darsteller waren wohl die größten Überraschungen bei der Verleihungs-Gala im Berlinale Palast. Emily Watson gewann die Trophäe als beste Nebendarstellerin für ihre Rolle der sinister freundlichen Nonne Schwester Mary im irisch-belgischen Eröffnungsfilm „Small Things Like These“. Der Scheinwerfer fiel zu Beginn des Festivals so zielgerichtet auf Hauptdarsteller Cillian Murphy, der derzeit zudem als Titelheld des Atom-Epos‘ „Oppenheimer“ für den Oscar nominiert ist, dass Watson bei der Premiere buchstäblich ein Schattendasein führte. Tatsächlich gewinnt sie damit zum ersten Mal einen Preis bei einem großen Filmfestival, nach unzähligen Academy-, Golden Globe- und Emmy-Nominierungen.

Auch für Sebastian Stan, der im Psycho-Thriller „A Different Man“ des US-Amerikaners Aaron Shimberg die Hauptrolle spielt, ist der Silberne Bär für die Hauptrolle der erste Preis in seiner Karriere. Nominiert war er allerdings schon für den Golden Globe und den Emmy Award als Tommy Lee in der Serie „Pam & Tommy“. Seine Transformation in „A Different Man“ vom entstellten, aber erfolgreichen Schauspieler hin zum schönen Menschen, der jeden gewohnten Bezug zu seinem Dasein verloren hat, macht den in Rumänien geborenen und in den USA ausgebildeten Stan zu einer Größe, mit der man ab jetzt auch im europäischen Film rechnen sollte.

Mit dem Regie-Bären für „Pepe“ bewies die Jury Sinn für Humor. Der dominikanische Regisseur Nelson Carlos De Los Santos Arias zog für sein Drama um das einzige in Südamerika erschossene Nilpferd alle Register an Filmgattungen (Spiel-, Experimental-, Dokumentar-, Animationsfilm) und viele Genres (Komödie, Tragödie, Thriller). Er lässt den Dickhäuter in drei Sprachen grummeln, grunzen, philosophieren und ganz nebenbei entlarvt er die Ein- und Übergriffigkeit des Menschen in die Natur. Die Chance, dass „Pepe“ irgendwann in einem deutschen Kino landet, ist leider gering. Aber wenn, dann sollte man auf jeden Fall ein Ticket lösen, denn mehr Filmarten und Schauwert bekommt man selten für den Preis.

Viele hatten beim Preis für die beste Regie mit Matthias Glasner gerechnet. Dass es der Silberne Bär für das Drehbuch von „Sterben“ wurde, entbehrt nicht der Logik. Das Sterben innerhalb der Familie Lunies wird aus drei Perspektiven erzählt, die so gewitzt ineinander verschränkt sind, dass sich daraus eine ganze Familie-Saga herauslesen lässt. „Sterben“ ist sein persönlichster Film, mit selbst gemachten Erfahrungen und Ereignissen und der seiner kleinen Tochter, die zu Beginn des Films den weisen Rat gibt: „Du musst tun, was dein Herz will!“ Genau das hat Matthias Glasner in seinem dritten Wettbewerbsfilm bei einer Berlinale („Der freie Wille“ 2006, „Gnade“ 2011) für alle auf und vor der Leinwand getan.

Auch die Juryentscheidung, den Bären für eine herausragende künstlerische Leistung an den Kameramann Martin Gschlacht zu vergeben, ist voll und ganz nachzuvollziehen. Mit seinen düster engen, aber oft warmen Bildern schafft er es, das Regie-Duo Veronika Franz und Severin Fiala in den österreichisch-deutschen Drama „Des Teufels Bad“ den schmalen Grat zwischen Idylle und Horror gehen zu lassen.

Mit „Dahomey“ ist es wieder ein Dokumentarfilm, der mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet wurde. War es 2023 mit „Sur l’Adamant“ ein ungewöhnlicher Einblick in die Welt psychisch Kranker mittels Kunst und Musik, sind es in „Dahomey“ vor allem die Reaktionen der Menschen in Benin auf die Rückkehr der einst gestohlenen Kunstschätze. Mit den 26 Skulpturen von Königen und Geistern kehren aber nicht nur ein Teil der Identität der Menschen ehemaligen Dahomey, das im heutigen Benin liegt, wieder heim. Auch die Artefakte selber bekommen so ihren eigentlichen Sinn zurück. Eben diesen Zusammenhang hat Mati Diop, die französische Regisseurin mit den senegalesischen Wurzeln kongenial mit Hilfe eines sprechenden Königs aus dem Off, Innenansichten einer Transportkiste und einer Diskussionsrunde unter Studenten an neuen Standort der Skulpturen.

Edda Bauer