72. Berlinale

Die Omikron-Berlinale

Foto: Edda Bauer

„Klar ist, dass wir unsere Entscheidung bei einer Verschlechterung der Lage noch einmal überdenken müssen“, gab sich Festival Co-Leiterin Mariette Rissenbeek bei der offiziellen Pressekonferenz zu den 72. Internationalen Filmfestspielen Berlin noch verständnisvoll. Eine Pressekonferenz, die am 19. Januar ausschließlich online stattfand, weil die Lage schon zu diesem Zeitpunkt schlecht war. Entschieden hatte das Intendanten-Duo Rissenbeek und Carlo Chatrian zuvor, dass die Berlinale 2022 ausschließlich vor Ort im Kino stattfinden wird, als einhundertprozentige Präsenzveranstaltung.

Natürlich gelten dabei die aktuellen Hygiene-Verordnungen, 2G plus Test oder Booster, und allzeit FFP2-Maske, was für einen einzelnen Kinobesuch auch völlig ausreichen mag. Bei einem Filmfestival findet das alles jedoch in anderen Dimensionen statt – auch wenn sich die diesjährige Berlinale verkleinert (256 statt der üblichen 300+ Filme), verkürzt (Wettbewerb dauert nur 5 Tage) und die Sitzplätze halbiert (50 Prozent Auslastung pro Saal) hat. Da aber so gut wie alle Abspielstätten am Potsdamer Platz liegen, ändert sich dort an Menschenaufkommen und -dichte nicht viel.

Diese Maßnahmen bei einer Verschlechterung der Lage noch einmal zu überdenken, wie Rissenbeek es im Januar versprochen hatte, hieße, das Filmfest kurzfristig abzusagen. Zu einem geteilten Online-/Sommer-Event á la 2021 oder auch in eine Hybrid-Veranstaltung – wie die diesjährigen Festivals in Utah (Sundance) und Rotterdam – ließe sich diese Berlinale auf die Schnelle nicht mehr verwandeln.

Warum aber gibt es für die Berlinale 2022, deren Preisverleihung am 16. Februar mit der vorausgesagten Hochphase der Omikron-Welle zusammenfällt, keine Kompromisse? Warum nur 100 Prozent Präsenzveranstaltung oder gar nichts? Während Intendantin Rissenbeek in den TV-Interviews im Vorfeld gerne das gemeinschaftliche Erleben von Film beschwört, wird sie im Gespräch mit dem privaten Berliner Radio-Sender fluxfm deutlicher: „[…] für einen Film, der sich präsentiert, [ist] die Öffentlichkeitswirksamkeit wichtig, weil der Film ja hoffentlich anschließend ins Kino kommt und dann davon profitiert, als Marketingmaßnahme sagen zu können, ‚Hier, ich hab Fotos vom roten Teppich‘ oder ‚Der Film wurde so-und-so vom Publikum aufgenommen.‘ Die Reaktionen von Menschen auf Filme kann man nur geballt in Präsenzveranstaltungen wahrnehmen.“ Damit beschreibt Rissenbeek natürlich nichts Neues, der Glamour-PR-Effekt ist das, was Filmfestivals ausmacht, weil er namhafte Sponsoren anzieht. Dafür gibt es seit jeher Galavorführungen mit großem Staraufkommen oder in den Wettbewerb (meist außer Konkurrenz) eingestreute Hollywood-Produktionen. Allerdings hat sich Hollywood in Berlin schon länger nicht mehr blicken lassen – und auch in diesem Jahr jegliches Erscheinen gecancelt. Die ganze Last des schönen Scheins aus den USA hätte sowieso allein auf den Schultern von Sigourney Weaver und Elizabeth Banks gelegen, weil sie in Phyllis Nagys historischem Drama „Call Jane“ zwei Frauenrechtlerinnen darstellen. Mit Juliette Binoche und Vincent Lindon für Claire Denis‘ „Avec amour et acharnement“ und Charlotte Gainsbourg auf Selbstfindungstrip in „Les passagers de la nuit“ liegt Frankreich noch gut im Rennen auf dem PR-Teppich. Über diesen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Isabelle Huppert schreiten, schließlich sind ihr eine Hommage und der diesjährige Goldene Ehrenbär gewidmet.

Weil auf Glanz und Glitzer bekanntermaßen nur wenig Verlass ist, erst recht in Pandemie-Zeiten, setzen die 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin für das nötige weiße PR-Rauschen im Hintergrund also aufs einheimische Publikum – und ohne mit der Wimper zu zucken dessen Gesundheit aufs Spiel. Das kann recht kurzfristig zum Ende dieser Berlinale führen. Auf lange Sicht gesehen hat das Intendanten-Duo Rissenbeek und Chatrian mit seiner Entscheidung für eine Präsenzveranstaltung auf dem Höhepunkt einer Corona-Welle dem Film, den Filmschaffenden, dem Publikum, dem Festival und sich selbst aber schon jetzt einen Bärendienst erwiesen.

Isabelle Huppert
Isabelle Huppert
Foto: SBS Productions, Twenty Twenty Vision Filmproduktion, France 2 Cinéma & Entre Chien et Loup

WETTBEWERB:

  • „A E I O U - Das schnelle Alphabet der Liebe“ von Nicolette Krebitz (Deutschland, Frankreich)
  • „Alcarràs“ von Carla Simón (Spanien, Italien)
  • „Avec amour et acharnement“ („Both Sides of the Blade“) von Claire Denis (Frankreich)
  • „Rimini“ von Ulrich Seidl (Österreich, Frankreich, Deutschland)
  • „Call Jane“ von Phyllis Nagy (USA)
  • „Drii Winter“ („A Piece of Sky“) von Michael Koch (Schweiz, Deutschland)
  • „Everything Will Be Ok“ von Rithy Panh (Frankreich, Kambodscha)
  • „La ligne“ („The Line“) von Ursula Meier (Schweiz, Frankreich, Belgien)
  • „Leonora addio“ von Paolo Taviani (Italien)
  • „Les passagers de la nuit“ („The Passengers of the Night“) von Mikhaël Hers (Frankreich)
  • „Nana“ („Before, Now & Then“) von Kamila Andini (Indonesien)
  • „Peter von Kant“ von François Ozon (Frankreich)
  • „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ von Andreas Dresen (Deutschland, Frankreich)
  • „Robe of Gems“ von Natalia López Gallardo (Mexiko, Argentinien, USA)
  • „So-seol-ga-ui Yeong-hwa“ („The Novelist's Film“) von Hong Sangsoo (Südkorea)
  • „Un año, una noche“ („One Year, One Night“) von Isaki Lacuesta (Frankreich, Spanien)
  • „Un été comme ça„ („That Kind of Summer“) von Denis Côté (Kanada)
  • „Yin Ru Chen Yan“ („Return to Dust“) von Li Ruijun (Volksrepublik China)

Edda Bauer