73. Int. Filmfestspiele Berlin

Der Dornröschenschlaf

Der Dornröschenschlaf

Foto: Edda Bauer

In den Plakatvitrinen bleibt es finster. Die großen digitalen Werbetafeln wurden gleich ganz abgebaut. Nicht einmal das blinkende Lametta von Weihnachten `22 hängt noch. Mit ihren – gut gemeinten – Energiesparmaßnahmen hat die Stadt Berlin dem Glamour das Licht komplett ausgeknipst. Sogar wenige Stunden vor der großen Gala-Eröffnung mit der Weltpremiere von Rebecca Millers „She Came to Me“ liegt der Potsdamer Platz noch im Dornröschenschlaf.

Doch auch wenn Millers sich selbst immer wieder humoristisch verhindernde Romanze zwischen Marisa Tomei und Peter Dinkelage nicht gerade der lauteste Startschuss für eine post-pandemische Berlinale ist. „She Came to Me“ ist zumindest ein gut gelaunter, liebevoller Auftakt zu einem Festival, in dessen Filmen es um viel Wut, manchmal Blut und oft um die Existenz geht. Sei bei dem Aufstand iranischer Frauen gegen das Kopftuch, in den die indische Regisseurin Sreemoyee Singh in Teheran gerät, was sie dokumentarisch in „And, Towards Happy Alleys“ (Panorama Dokumente) verarbeitet. Oder wenn die burkinische Regisseurin Apolline Traoré ihre Titelheldin „Sira“ (Panorama) im Alleingang eine islamistische Terrorgruppe blutig aufmischen lässt. Und zweifellos wird es auch bei Sean Penns Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Februar 2022, just zu dem Zeitpunkt, als Wladimir Putin die Ukraine überfällt, existenziell – „Superpower“ (Special Gala) sein oder haben, das ist hier die Frage. 287 Filme werden innerhalb von zehn Tagen über die Leinwände der 73. Internationalen Filmfestspiele Berlin flimmern. 19 davon konkurrieren im Wettbewerb um den einen goldenen und die sieben silbernen Bären. Darunter finden sich nicht nur Überraschungen wie etwa Franz Rogowski als Fremdenlegionär in der französisch-italienisch-polnisch-belgischen Ko-Produktion „Disco Boy“ oder Vicky Krieps als eine das Leben feiernde Ingeborg Bachmann in Margarethe von Trottas „Reise in die Wüste“. Mindestens skurril, nahezu komödiantisch verspricht es zu werden, wenn Jesse Eisenberg in „Mandrome“ als junger Vater dem Männlichkeitswahn verfällt. Eine seltene Gelegenheit zur formalen und inhaltlichen Verortung der sogenannten „Berliner Schule“ bietet dieser Wettbewerb außerdem. Mit Filmen von Christoph Hochhäusler, Christian Petzold und Angela Schanelec mit je einem Krimi, einem Beziehungsdrama und einer familiären Reise in die Vergangenheit gilt es der Vielfalt dieser Strömung im deutschen Film auf die Spur zu kommen. Die Wettbewerbs-Jury könnte dabei Hilfe von Mitglied Valeska Grisebach bekommen, die als Regisseurin selbst zur Berliner Schule gezählt wird. Apropos Jury, diese wird in diesem Jahr kompetent angeführt Kristen Stewart, die als Schauspielerin sowohl im Kommerz- als auch im Indi-Kino zu Hause ist, und das sogar auf beiden Seiten des Atlantiks. Mit am Tisch sitzen neben Grisebach außerdem die iranische Schauspielerin Golshifteh Farahani, die beiden Regisseurinnen und Goldene Bären-Gewinnerinnen Radu Jude („Bad Luck Banging or Loony Porn“, 2021) und Carla Simón („Alcarràs“, 2022), die US-amerikanische Besetzungsdirektorin Francine Maisler und der chinesische Regisseur und Produzent Johnnie To, dessen Filme seit rund einem Vierteljahrhundert auf der Berlinale ihre Premiere feiern. Beste Voraussetzungen also, um nicht nur den Potsdamer Platz und das Berliner Publikum aus dem Dornröschenschlaf zu holen, sondern vielleicht sogar im Laufe des Jahres die Arthaus-Kinos in der ganzen Republik.

WETTBEWERB:

  • „20.000 especies de abejas“ (20,000 Species of Bees) von Estibaliz Urresola Solaguren (Spanien)

  • „Art College 1994“ von Liu Jian (Volksrepublik China)

  • „Bai Ta Zhi Guang“ (The Shadowless Tower / Der schattenlose Turm) von Zhang Lu (Volksrepublik China)

  • „Bis ans Ende der Nacht“ von Christoph Hochhäusler (Deutschland)

  • „BlackBerry“ von Matt Johnson (Kanada)

  • „Disco Boy“ von Giacomo Abbruzzese (Frankreich, Italien, Polen, Belgien)

  • „Le grand chariot“ (The Plough) von Philippe Garrel (Frankreich, Schweiz)

  • „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“ von Margarethe von Trotta (Deutschland, Schweiz, Österreich, Luxemburg)

  • „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von Emily Atef (Deutschland)

  • „Limbo“ Von Ivan Sen (Australien)

  • „Mal Viver“ (Bad Living) von João Canijo (Portugal, Frankreich)

  • „Manodrome“ von John Trengove (UK, USA)

  • „Music“ von Angela Schanelec (Deutschland, Frankreich, Serbien)

  • „Past Lives“ von Celine Song (USA)

  • „Roter Himmel“ von Christian Petzold (Deutschland)

  • „Sur l’Adamant“ (On the Adamant) von Nicolas Philibert (Frankreich, Japan)

  • „The Survival of Kindness“ (Das Überleben der Freundlichkeit) von Rolf de Heer (Australien)

  • „Suzume“ von Makoto Shinkai (Japan)

  • „Tótem“ von Lila Avilés (Mexiko, Dänemark, Frankreich)

Edda Bauer