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Mord im Orientexpress

MordImOrientexpress

20th Century Fox • 22. März

Der Fremde im Zug

Agatha Christies Kriminalromane sind gut gealtert, ihre unwahrscheinlichen Helden Galionsfiguren der Popkultur. Regisseur und Edel-Fan Kenneth Branagh schwebt mit seiner Version vom „Mord im Orient-Express“ der Auftakt einer Serie von Verfilmungen vor. Im Erfolgsfall wartet eine dankbare Rolle auf ihn, denn der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot tritt in nicht weniger als 33 Büchern auf.

Eins von Agatha Christies bekanntesten Zitaten lautet: „Das wichtigste Rezept für den Krimi: Der Detektiv darf niemals mehr wissen als der Leser.“ Die Autorin beherzigte die Regel für mehr als 60 Kriminalromane, deren formelhaftes Korsett unter dem Namen „Whodunit“ bekannt ist. Das klassische Whodunit ist mit seinem streng umrissenen Setting, den ordentlich aufgereihten Verdächtigen und der methodischen Lösung des Falls in der Regel sehr weit von echter Polizeiarbeit entfernt, eignet sich aber umso besser für die Art von Lektüre, die bis zum Schluss spannend bleibt und teilweise näher an Denksport als an Literatur ist. Auch das Rollenprofil des Detektivs verändert sich durch die Struktur der Erzählung. Statt draufgängerischer Trenchcoat-Träger oder geigender Genies ruft das Reißbretthafte des Whodunits die Sorte puzzelnder Pedanten auf den Plan, der Christie mit ihrem Hercule Poirot ein lebendiges Denkmal setzte. Der belgische Superdetektiv paart Exzentrik mit Ego, besitzt eine übermenschlich erscheinende Beobachtungsgabe und könnte mit seinen Spleens und Manierismen auch als Parodie seiner selbst fungieren. Mit anderen Worten: die Sorte Mensch, die es am allermeisten fuchst, wenn er nicht jederzeit mehr weiß als der Leser. In „Mord im Orient-Express“ geht es um eine Zugfahrt von Istanbul nach Calais, die die Autorin in ihrem Leben selbst mehrmals unternahm. Die exklusive Reisegruppe besteht in diesem Fall aus zwölf illustren Personen internationaler Provenienz und einem windigen Geschäftsmann namens Samuel Ratchett, der Poirot anlässlich des ihm vorauseilenden Rufs für die Dauer der Reise als Leibwächter engagieren möchte. Leider vergeblich. Das Bedürfnis nach Schutz kommt rückblickend betrachtet nicht von ungefähr, denn am nächsten Morgen wird Ratchett erstochen in seinem Abteil gefunden, und der Detektiv darf innerlich frohlocken. Wegen einer Schneeverwehung ist der Zug irgendwo in Jugoslawien auf freier Strecke stehengeblieben, und Fußspuren sind draußen auch keine zu entdecken. Der Täter muss also an Bord sein, und bis die Behörden eingeschaltet werden können, hat Poirot die Möglichkeit, seinem Resümee noch einen weiteren Ermittlungserfolg hinzu zu fügen. Die meisten Passagiere zeigen sich während ihrer individuellen Verhöre zunächst kooperativ, doch bei der Rekonstruktion des Tathergangs deutet nach und nach alles auf das perfekte Verbrechen hin. Offenbar hat jeder Verdächtige mindestens ein wasserdichtes Alibi, und die mysteriöse Figur, die nachts im Gang des Schlafwagens gesehen wurde, hat sich anscheinend in Luft aufgelöst. Genau wie Agatha Christies Roman präsentiert auch Kenneth Branaghs Filmversion einen Mordfall, dessen Konstruiertheit nicht kaschiert wird. Im Gegenteil: In Ermangelung wilder Action-Momente und psychologischer Tiefenschärfe lag das Vergnügen an „Mord im Orient-Express“ schon immer in der peniblen Aufgeräumtheit des Plots, der eher einer Versuchsanordnung als einem heißblütigen Verbrechen ähnelt. Poirots „kleine graue Zellen“ sind der Star, und weil man die nicht bei der Arbeit sehen kann, sind es die wortgewandten Verhöre und die prächtigen Kulissen, die zu Hauptrollen befördert werden. Mit Penélope Cruz, Johnny Depp, Judi Dench, Willem Dafoe, Michelle Pfeiffer und anderen verfügt der Film über ein Darstellerensemble, das in ähnlicher Ballung wahrscheinlich nur bei der Oscar-Verleihung anzutreffen ist, doch die Schauspieler bei Agatha-Christie-Verfilmungen sind immer dann am besten, wenn sie wirken als wären sie in Urlaub. Das gilt auch für Branagh, der sich die Poirot-Rolle geschnappt hat und sich darüber hermacht wie über einen Festtagsschmaus. Dass der Filmvorgänger von 1974 bis heute regelmäßig in der Weihnachtszeit ausgestrahlt wird, ist übrigens auch kein Zufall. „Mord im Orient-Express“ definiert sich über eine Üppigkeit, die nicht in einer kriminologischen Stringenz, einer kunstvollen Erzählung oder einer guten Charakterisierung liegt. Vielmehr ist es das wohltuende Gefühl, bequem durch eine unbequeme Landschaft kutschiert zu werden. Kein Wunder, dass Agatha Christie Zugreisen so liebte.

Fazit: Die fünfte Verfilmung von Agatha Christies Krimiklassiker setzt auf ein beeindruckendes Staraufgebot und visuelle Opulenz, um die Vorlage fürs 21. Jahrhundert flott zu machen. Zwischen altmodischer Spannung und gediegenen Schauwerten wird das Mordrätsel auch stilistisch zu einem Vergnügen. Trotz einiger Modernisierungen bleibt Christies typischer Tonfall intakt.

Lars Backhaus