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Elle

MFA · 11. September

Nur wenige Filmemacher können auf eine so wendungsreiche Karriere zurückblicken wie Paul Verhoeven. Nachdem er sich mit holländischen Charakterdramen wie „Türkische Früchte“ etabliert hatte, wurde er mit „Total Recall“ oder „Basic Instinct“ zum Vorzeigeregisseur Hollywoods. Mit dem Thriller-Drama „Elle“ eroberte der 78-Jährige nunmehr das französische Kino – weil er bereit war, sich seinen Ängsten zu stellen.

Zwischen Ihrem vorherigen Film „Black Book“ und „Elle“ liegen zehn Jahre. Hatten Sie Bedenken, dass Sie ein wenig eingerostet sind?
Nein, denn ich hatte zwischenzeitlich einen kleinen holländischen Fernsehfilm gedreht, bei dem ich mit verschiedenen Kameratechniken, die ich für „Elle“ einsetzte, experimentieren konnte. Aber ich hatte Angst davor, als Holländer einen Film auf Französisch zu drehen, der fest in der französischen Kultur verankert ist. Von diesen Zweifeln habe ich eine monatelange Migräne bekommen. Erst als ich das Gefühl hatte, dass ich das bewältigen konnte, ging sie weg.

Sie sind ja für kontrovers-provokante Geschichten bekannt, ob „Der vierte Mann“ oder „Basic Instinct“. So gesehen würde man bei Ihnen keine Angst vermuten.
Oh doch. Auch ich habe meine Komfortzone, und ich zögere, sie zu verlassen. Deshalb brauchte sieben Jahre, bis ich mich entschloss, in die USA zu gehen. – Und mit 76, als ich „Elle“ anging, war ich noch weniger zu neuen Wagnissen bereit. Andererseits machen dich solche Unwägbarkeiten kreativer. Ich bin der Auffassung, dass „Robocop“, meine erste amerikanische Produktion, mein bester Hollywood-Film ist. Wenn du das Unbekannte betrittst, kann etwas Hochinteressantes dabei herauskommen.

Eigentlich wollten Sie den Film aber wie gewohnt auf Englisch in den USA realisieren...
Und das war im Nachhinein betrachtet eine schlechte Idee. Natürlich lag das erstmal auf der Hand. Immerhin habe ich in den letzten 25 Jahren in den USA gelebt, wo ich amerikanische Filme drehte, und Produzent Saïd Ben Saïd hat englischsprachige Projekte wie Roman Polanskis „Gott des Gemetzels“ realisiert. Deshalb holten wir mit David Birke einen amerikanischen Autoren, mit dem ich schon gearbeitet hatte und der Philippe Dijans Roman von Paris in die USA verlegte. Doch dann begriffen wir, dass sich dieses Projekt in den USA nicht finanzieren ließ, wir fanden auch keine Hauptdarstellerin. Die Geschichte entspricht eben nicht dem amerikanischen Mainstream-Geschmack, ist dafür auch zu politisch inkorrekt. Und ich habe auch nur in Frankreich eine Darstellerin vom Kaliber Isabelle Hupperts gefunden. Ohne sie wäre „Elle“ nicht möglich gewesen.

Eigentlich sollte doch so eine Geschichte für das amerikanische Publikum passen: Eine Geschäftsfrau wird vergewaltigt und sucht dann die Konfrontation mit dem Täter.
Die amerikanische Presse schrieb, das Ganze sei ein Rache-Thriller, aber das ist „Elle“ eben nicht. Einerseits hat der Film Züge eines Krimis á la Hitchcock, aber die Identität des Täters wird nach zwei Dritteln der Handlung gelüftet, und dann geht es eben nicht um die große Rache. Denn gleichzeitig nimmt sich der Film – wie auch schon der Roman – die Zeit und die Freiheit, das gesellschaftliche Umfeld der Hauptfigur, ihre sozialen Beziehungen darzustellen. Die Handlung wird nicht von einem Plot angetrieben, dem die Charaktere untergeordnet sind.

Andererseits verbindet diesen Film viel mit Ihrem bisherigen Œuvre. Denn in vielen Ihrer Filme wird die Handlung von einer starken Frauenfigur geprägt. Woher kommt diese Präferenz?
Seit meiner frühesten Jugend habe ich Mädchen und Frauen immer als gleichberechtigt, wenn nicht stärker erlebt. Schon in der Grundschule gab es einige Mädchen, die immer bessere Noten hatten als ich. Wenn ich mich zwischen einem Projekt über einen Mann oder eine Frau entscheiden muss, dann würde ich jetzt immer die weibliche Protagonistin wählen. Ich fühle mich mit Frauen wohler, ich verstehe sie besser und sie sind interessanter für mich.

Von Hollywood-Spektakeln wie „Total Recall“ oder „Starship Troopers“ haben Sie sich indes weit entfernt. Könnten Sie sich vorstellen, noch einmal so etwas zu drehen?
Natürlich. Ich studiere auch die Arbeiten in dem Genre, um zu sehen, wie sich die digitale Technologie weiterentwickelt. Aber die Filme an sich sind meistens ziemlich langweilig. Und ich habe noch kein Angebot bekommen, dass ich interessant gefunden hätte. Denn die amerikanischen Studios haben in der Regel keine Ambition mehr, etwas Relevantes von künstlerischer Qualität zu produzieren. Es geht nur noch ums Geld.

Interview: Rüdiger Sturm

Fazit:
Von Altersmilde oder -müdigkeit keine Spur: Mit stolzen 78 Jahren legt Paul Verhoeven mit „Elle“ einen der radikalsten und formal geschliffensten Filme seiner Laufbahn vor. Dabei gelingt ihm auch das hoch differenzierte Porträt einer Frau (kongenial dargestellt von Isabelle Huppert), deren Souveränität selbst der Protagonistin von „Basic Instinct“ Respekt abnötigen würde.