Kino

Die Neustarts der Woche

Die Unsichtbaren – Wir wollen leben

Tobis, 26.10.2017

Die Unsichtbaren Doku oder Fiction, das ist immer öfter die Frage, wenn es gilt, einen Stoff, der wirklich passiert ist, für den Film aufzuarbeiten. Im Fernsehen wuchert diese „Reenactment“-Manie wie ein Pilz und befällt „Dokumente“, die mit nachgespielter Wahrheit aufgehübscht und irgendwie emotionaler scheinen. Einfach näher am Zuschauer sein, das ist das Postulat, das den klassischen Dokumentarfilm mit seinem argumentativ-analytischen Ansatz an die Wand spielt. Auch „Die Unsichtbaren“ ist Doku-Fiction und dennoch macht das Konzept hier Sinn. Denn Regisseur Claus Räfle dreht zu aller erst einen Spielfilm über vier jüdische Jugendliche, denen es gelang, in Berlin 1943 unterzutauchen und so den Mördern ihrer Familien ein Schnippchen zu schlagen. Vier Porträts von Schicksalen, die außer der Todesangst nichts gemein hatten. Die Interviews mit den vier (Über)lebenden fungieren als dramaturgisch geschickt gebauter Puffer, um eine konstruierte Handlung überflüssig zu machen. Klug, geschickt, aber die Ausnahme!

Jörg Gerle


Sommerhäuser

Prokino, 26.10.2017

Sommerhäuser Die Terroristen sind deutsch, die Telefonzellen gelb und Helmut Schmidt steht zur Wahl. Man schreibt das Jahr 1976. Kaum hat Oma Sophie das Zeitliche gesegnet, schlägt ein Blitz in den größten Baum ihres Schrebergartens ein. Fortan diskutieren drei Generationen, wie’s denn nun weitergehen soll mit dem Baum, dem Garten und dem Leben. Die Ausstattung in Sonja Kröners Spielfilmdebüt ist weit mehr als nur das, was für Optik und Atmo sorgt. Vielmehr hat sie die Funktionen umgekehrt und die drei „Sommerhäuser“ zu Titelhelden gemacht, zwischen denen Menschen herumwuseln, streiten, lachen, plantschen oder Zeitung lesen. Passend zur Ära gehen die Jungen immer wieder mal im angrenzenden Wald verloren, was den Älteren erst spät, dann aber umso panischer auffällt – nicht zuletzt, weil gerade ein Kindermörder in der Gegend unterwegs ist. „Sommerhäuser“ verlangt seinen Zuschauern nicht mehr ab, als einer großartigen Besetzung in verträumt nostalgischer Umgebung beim fiktionalen Urlaub machen zuzuschauen.

Mathilde Scheck


Django – Ein Leben für die Musik

Weltkino, 26.10.2017

Django Er ist sicher eines der Gesichter des Jahres. Diese Mischung aus Weltschmerz, Eigensinn, Überheblichkeit und Lethargie, die sich in seiner Mimik offenbart wie bei keinem sonst. Ungeachtet von Äußerlichkeiten ist Reda Kateb ein harter Arbeiter. Ob die kryptischen Texte von Peter Handke, die er für Wim Wenders‘ 3D-Film „Die schönen Tage von Aranjuez“ verinnerlichte oder die virtuose Technik des Gitarrenspiels, die er für die Rolle des Django Reinhardt erlernt hat: Der Pariser ist immer ein Ereignis. In Etienne Comars tragischem Biopic verkörpert Kateb den Meistermusiker, der während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich Erfolge feierte und sich nicht scheute, mit den Besatzern anzulegen. Als „Zigeuner“ ein fatales, für seine ganze Familie lebensgefährliches Spiel. Comar, der für sein „Von Menschen und Göttern“ mit Preisen überhäuft wurde, übt hier den Spagat zwischen Kriegstragödie und fesselnder Künstlerbiografie und zeigt einen Zerrissenen auf der Flucht: vor den Nazis und seinen eigenen Dämonen.

Jörg Gerle


Maudie

NFP, 26.10.2017

Maudie „Erst komm ich, dann die Hunde, dann meine Hühner, dann du.“ So begrüßt der grimmige Einzelgänger Everett (Ethan Hawke) seine neue Haushälterin Maud (Sally Hawkins). Er lebt in der kanadischen Provinz in den 50er-Jahren. Maud hatte es bisher nicht leicht. Von schwerer Arthritis gezeichnet, hat sie eine gebückte Körperhaltung. Die Familie schämte sich für sie. Zerbrechlich in physischer, aber äußerst robust in geistiger Natur, fängt sie an, Bilder mit einem kindlichen Sinn für Wunder zu malen. Dies bleibt auch Everett nicht verborgen, der sie unterstützt und sich ins sie verliebt. Eine reizend anzuschauende Verschiebung der Machtverhältnisse beginnt, als Maud plötzlich Erfolg hat. Die auf dem Leben der Volkskünstlerin Maud Lewis beruhende Geschichte, erzählt die harte Romanze von zwei Außenseitern durch das gelungene Spiel von Hawkins und Hawke nicht nur plausibel, sondern auch berührend. Dazu fängt Regisseurin Aisling Walsh Neuschottland in all seiner grauen, braunen, malerischen Schönheit ein.

Nora Harbach


God‘s Own Country

Salzgeber & Company Medien, 26.10.2017

Gods own country Nachdem sich Johnny um das Vieh gekümmert hat, treibt er es wild mit einem Dorfjungen im Anhänger einer Landmaschine. Ob er danach noch Bock auf ein Bier hätte, fragt ihn der Junge. „Nein“, antwortet Johnny und knallt ihm die Wagentür vor der Nase zu. Es ist eine rabiate Form, um eine Romanze einzuleiten, die Francis Lee für sein Premierenwerk wählt, und doch verfehlt die inszenierte Kargheit des Regisseurs ihre Wirkung keineswegs. In God’s Own Country verdrängt Protagonist Johnny Saxby (Josh O‘Connor) die eigene Sinnlichkeit und Sexualität. Das klappt, bis der Rumäne Gheorghe (Alec Secarean) der Familie Saxby auf dem Land in Yorkshire unter die Arme greift. Heimlich, still und leise begleitet der Film eine gemeinsame Einsamkeit mit kühlen Bildern und macht die Liebe zwischen Mann und Mann zur Nebensache. Weil Leiharbeiter Gheorghe aus einem Land kommt, in dem die Mütter ihren fortgegangenen Söhnen hinterher trauern, ist der politische Beiklang neben der brutalen Zärtlichkeit nicht zu überhören.

Benjamin Freund