Literatur

Buchvorstellung der Woche

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

Verlag Antje Kunstmann • 14. Februar

Yesmin Ward Cover Im schonungslosen „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“, ihrem dritten Roman, bekräftigt "National Book Award"-Trägerin Jesmyn Ward Wert und Preis von Mitgefühl.

Es war einer der ersten lichten Gedanken nach dem Wahlsieg Donald Trumps, dass an dieser politischen wie gesellschaftlichen Gezeitenwende eine Kunst von wiedergefundener Relevanz und Strahlkraft kristallisieren könne und müsse. Fraglos sind die Dynamiken, die soziale Ungerechtigkeit, Rassismus und Hass kreieren und beschleunigen, seit jeher Teil der Kulturgeschichte der USA, mithin ihrer Identität. Und doch erleben wir seit jenem November 2016 eine neue Dringlichkeit: Das Kino wendet sich in ungeschönter Weise Außenseitern zu, der Hip-Hop, insbesondere der zarte Cloud Rap wendet sich statt Reichtümern profunder Resignation zu, und Jesmyn Wards Roman „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ wurde mit dem prestigeträchtigen, wirkungsstarken National Book Award (NBA) ausgezeichnet. So bluten Geschichten von den wunden Rändern der Gesellschaft, bisweilen gar aus seinem rohen Herzen in den Mainstream. Blut und Kummer tränken denn auch bereits die ersten Seiten. Jesmyn Ward bringt uns zurück nach Bois Savage, Mississippi, dessen fiktive Kulisse zwischen den Wurzeln in der Sklaverei und frisch blühendem White Trash bereits dem Vorgänger „Vor dem Sturm“ (anno 2011 ebenfalls mit dem NBA ausgezeichnet) Kontext gab. Auch in der Familie des 13-jährigen Jojo hat die Topografie Spuren hinterlassen. Ihm gehört der erste Gedanke von „Singt, ihr Lebenden...“, das in seinen Kapiteln seinen Protagonisten stets ihre eigene Stimme schenkt und gestattet. „Ich stelle mir gerne vor, dass ich weiß, was der Tod ist.“ Es ist Jojos 13. Geburtstag und zur Feier des Tages wird er lernen, was es bedeutet, „Eingeweide von Muskeln zu trennen, Organe aus ihren Höhlen zu schälen“. Jojo wird mit seinem Opa Pop eine Ziege schlachten, und doch scheint hier von Anfang an alles Sein auf dem Spiel zu stehen. Kurze, kunstvoll lose eingebundene Rückblicke, während sich der Dampf der kochenden Ziege im Wohnzimmer ausbreitet: der gewalttätige Vater, Michael, ein Weißer, im Knast, die farbige Mutter, die Jojo nur noch Leonie nennt, ein koksgeschundenes Wrack, die dreijährige Schwester Kayla ein letztes kleines, auch schon nicht mehr unberührtes Glück in einem Haus, in dem man es als Leser schnell kaum noch aushalten kann. Es ist immer noch Jojos Geburtstag, als Michael telefonisch ankündigt, dass er nach gut drei Jahren entlassen wird. Er stößt so eine Geschichte an, in der Ward zwischen Generationenroman, Road Trip und dem Mythos begrabener Vergangenheiten, spektral manifestiert in geisterhaften Erscheinungen, die Leonie und Jojo konfrontieren, in einer Form von Leid erzählt, die das Mitfühlen im fundamentalen Schmerz der Figuren unvermeidbar macht. Der mit aller Wucht gefasste Glaube daran, dass dieser Schmerz, nicht weniger als Liebe und Hoffnung, den Menschen auch dort zusammenhalten, wo die herrschende Klasse sich längst abgewandt hat, bildet die Seele von „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ – einem Buch, das jeden bereichert zurücklassen wird, der die Kraft aufbringt, sich ihm zu stellen.

Freidrich Reip


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