Literatur

Buch der Woche

Uwe Wittstock • Karl Marx beim Barbier

Blessing Verlag • 05. März

Wittstock - Karl Marx Karl Marx reiste kurz vor seinem Tod für zehn Wochen nach Algier. Uwe Wittstock begab sich auf Spurensuche und blickt von dort kundig auf Leben und Werk zurück.

Es liegt in der Natur des Gespenstes,dass es sich hartnäckig in Gemäuern einnistet und dort so lange überdauert wie der Glaube an seine Existenz besteht. Nun geistert zwar das Gespenst des Kommunismus, wie es einst Karl Marx erdachte, nicht mehr in Europa umher, schließlich haben sich die Proletarier darauf geeinigt, dass der Geiz geil und der Wille zum Konsum schier unbändig ist, doch ist es beachtlich, dass jene Überlegungen zur Ökonomie aus der Frühphase der Industrialisierung immer noch umherzuwabern scheinen. Nun jährt sich im Mai dieses Jahres der 200. Geburtstag von Marx, der wie kaum ein anderer Denker so gegensätzlich wahrgenommen wird: entweder wird er für seine hellsichtigen Theorien zur Kapitalismuskritik verehrt, oder für sein revolutionäres Gedankengut verteufelt. Der renommierte Autor Uwe Wittstock, der für seine Marcel-Reich-Ranicki-Biografie viel Lob erfuhr, widmet sich in „Karl Marx beim Barbier“ einer bislang wenig beleuchteten Phase aus Karl Marx Leben. So verlässt dieser rund ein Jahr vor seinem Tod das erste Mal Europa, um sich in Algier zehn Wochen lang von einer Rippenfellentzündung auszukurieren. Wittstock geht dabei klug vor und kleidet Marx Aufenthalt mit Bedacht in eine Erzählung, die das Leben an der nordafrikanischen Küste während der französischen Kolonialzeit im Jahre 1882 lebendig erscheinen lässt. Von dort aus blickt er im Wechsel zurück auf Marx Leben und Werdegang und erzählt davon anschaulich und historischfundiert, gespickt mit Zitaten aus zum Teil unveröffentlichten Briefen. So erfahren wir etwa von seinem liberalen Vater Heinrich, der aus einer jüdischen Familie stammend zum Christentum konvertieren musste, um als Anwalt unter der neuen preußischen Herrschaft Fuß fassen zu können. Gütig unterstützte er seinen Sohn Karl, das angestrebte Jurastudium zu absolvieren. Doch obwohl Karl ein strebsamer Student war, hatte er literarische Ambitionen, wechselte schnell von der Universität Bonn nach Berlin und wandte sich bald ganz der Philosophie zu. Vor allem der damals erst kürzlich verstorbene Gelehrte Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatte es Marx angetan, dessen neue radikal dialektische Philosophie später den Grundstein für sein eigenes ökonomisches Theoriegebäude legen sollte. Anders als viele Biografen geht Wittstock schonungslos offen mit Marx antisemitischen Kommentaren und Schriften um, die zwar zu jener Zeit nichts Ungewöhnliches waren, dann aber doch verwundern. Nicht nur aufgrund der eigenen jüdischen Vergangenheit, sondern weil Marx ansonsten auch nicht müde wurde, bestehende Geisteshaltungen kritisch zu hinterfragen, wie Wittstock konstatiert. Was bleibt, ist ein vielschichtiges und ambivalentes Bild des großen deutschen Revolutionärs, eine Bestandsaufnahme, die sich auf geradezu spannende Weise vom Mythos trennt, um einen neuen klaren Blick auf Marx zu ermöglichen. Am Ende seines Aufenthalts in Algier geht Marx zum Barbier, Mähne und Prophetenbart weichen. Fotografiert hat er sich mit dem neuen Look nie. Wie dieses Kapital war Marx ein scheues Reh.

Björn Eenboom


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