Literatur

Buch der Woche

Paul Auster - 4321

Rowohlt · 31. Januar

Weil Gott nicht würfelt, tut es ein anderer

Der Held in Paul Austers lang erwartetem Roman erlebt radikale Metamorphosen. Und führt eine Ursehnsucht vor: Das Liebäugeln mit dem Gedanken, aus dem eigenen Leben auszusteigen.

Gefällt Ihnen Ihr Leben nicht? Kaufen Sie sich doch ein neues. Ach, so geht das ja nicht. Aber man wird wenigstens darüber nachdenken können, wenn es nicht so wäre, wie es ist. Wäre beispielsweise Donald Trump nicht als Donald Trump zur Welt gekommen, sondern als Heidi Klum und Heidi Klum als Thomas Gottschalk und Thomas Gottschalk als TV-Hund Lassie, dann müsste man nur noch überlegen, wer sich zur Verfügung stellen würde, das Leben von Donald Trump zu übernehmen. Doch was sollen solche Gedankenspiele bringen? Albert Einstein zufolge ist der Lauf der Welt vorherbestimmt. Als Determinist war er überzeugt: „Gott würfelt nicht.“ Würfelt aber Gott nicht, dann würfelt eben Archibald „Archie“ Ferguson. „Nur weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auch auf andere Weise geschehen konnte“, überlegt der Held in Paul Austers neuem Roman „4321“. Ein Archie ist diesem nicht genug, daher gibt es vier davon: Den schlichten, provinziellen Archie; den genialen Künstler; den kämpferischen Pechvogel und den, der sich mitten in das Zeitgeschehen stellt. Die radikalen Metamorphosen aber rühren nie an seinem Ich. „Was für ein interessanter Gedanke, sich vorzustellen, wie alles anders sein könnte, auch wenn er selbst immer derselbe bliebe“, sagt sich der junge Amerikaner, der im Newark der Fünfzigerjahre aufwächst – genauso wie sein Autor. Auster, der immer schon Autobiografisches in seine Werke brachte, entschied sich zuletzt im Jahr 2014 für einen „Bericht aus dem Innern“. Dort ließ er pur und ohne Verpackung seine Kindheit und die folgenden frühen Jahre wiederauferstehen. Nun also „4321“, ein Wälzer, der es von der Seitenzahl mit einem Dostojewski aufnehmen kann. Vielleicht auch kein Zufall, denn der russische Romancier war von Jugend an sein Vorbild und löste in Auster überhaupt erst den Wunsch aus, Schriftsteller zu werden. In seinem aktuellen Werk kommt er mit seiner Akribie beinahe an die subtile Figurenzeichnung eines Dostojewski heran. Und: Er tobt sich aus. Hier schöpft einer auf über 1250 Seiten in der deutschen Übersetzung – im englischen Original sind es rund 900 - aus dem prallen Leben. Der Leser wird von einer Idee zur nächsten gejagt, doch ist es kein Treiben, das atemlos macht, sondern fast schon süchtig. Das Tempo reißt mit, reißt hinein, und weil die Sätze ausgefeilt, aber literarisch leicht daherkommen, stolpert man nie.

Sylvie-Sophie Schindler