Literatur

Buch der Woche

Martin Walser - Statt etwas oder Der letzte Rank

Rowohlt · 5. Januar

Aus der Welt entlassen

Wer nicht weiß, wer er ist, und schon gar nicht, wie viele, der wird seinem Ich mit Martin Walser näherkommen. Eine präzise Seins-Untersuchung mit literarischer Radikalität.

Kann man sich selbst entkommen? Was überhaupt ist das Selbst? Eine Behauptung? Max Frisch formulierte einst in seinem Roman „Mein Name sei Gantenbein“: „Jedermann erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“ Mit dem In-der-Welt-Sein lässt sich demnach bezeugen, dass es ein Ich gibt, in dessen Rolle wir gefallen sind. Rousseau hielt das Selbst für ein „diskontinuierliches Ereignisgeschehen“. Nicht ruhend, nicht gleichbleibend, und im Ungewissen beheimatet. Die dadurch aufkommende Beunruhigung kann durchaus eskapistische Tendenzen auslösen, aber auch dazu inspirieren, sich bewusst für das Geheimnis, das dem Ontologischen anhaftet, zu entscheiden. Das Ich, das Martin Walser in seinem neuen Roman mit dem ins Schattenhafte treibenden Titel „Statt etwas oder Der letzte Rank“ beschlossen hat, beginnt mit: „Mir geht es ein bisschen zu gut.“ Eine Katastrophenmeldung aus dem Sein ist markiert. Auf dem Fuße folgt die Erlösung: „Zum Glück war das Bedürfnis, etwas genau wissen zu wollen, erloschen.“ Damit hat sich das Ich der, wie es selbst schildert, „Erzverführung zu allem“ entzogen. Ist der Wissenwollende der, in dem sich „die Welt einnistet“, so ist der, der sich daraus entlässt, wieder zu sich selbst zurückgekehrt. Und nimmt damit die vielleicht letzte Krümmung des Weges, die letzte Wendung oder den letzten Rank, wie man in der Schweiz sagt. Martin Walser geht es sprachlich auch dieses Mal um nicht weniger als alles. Der bald 90-Jährige formulierte sein Credo einst in einem GALORE-Interview: „Die Sätze müssen sitzen.“ Mit literarischer Präzision treibt er den Lesenden mehr als je zuvor dahin, sich dem Existenziellen zu stellen. Der Roman, herausgelöst aus dem Handlungshaften, zelebriert eine Innenschau und kulminiert in höchster philosophischer Kraft. 52 Kapitel, keine Passage länger als 20 Seiten, die kürzeste sogar auf einen Satz reduziert. Kritiker mögen Walser der Altersnarrheit schelten und ihn geißeln für Bekenntnisse wie „Bei diesen Brüsten bleiben. Um Asyl bitten.“ Der Schriftsteller aber ist um die Freiheit zu beneiden, sein Ich nicht mehr verstellen zu müssen. Seine Seins-Radikalität durchbricht das gesellschaftliche Konstrukt: „Das ganze Treue-Brimborium ist nichts anderes als die kulturelle Verbrämung einer barbarischen Strafroutine.“ Ein leerer Goldrahmen ziert das Cover. Der Leser mag sich selbst darin finden.

Fazit: Unterwegs zu sein in einer mobilen Welt, immer der Zeit hinterher, verführt dazu, auch seinem Ich immer hinterher zu hetzen. Unterwegs zu sein mit Martin Walser bedeutet literarisches Atemholen, durch das Ich –Nähe endlich möglich ist. Wem Coehlo zu banal ist und Hegel zu vergeistigt, und wer dennoch hungert nach philosophischer Betrachtung, der hat hier das passende Buch zur Hand. Zeitgemäß verdichtet und virtuos vom Sprachlichen ins Unaussprechliche geführt, gerät das Denken in Bewegung.

Sylvie-Sophie Schindler