Literatur

Buch der Woche

Marlon James - Eine kurze Geschichte von sieben Morden

Heyne Hardcore · 13. März

Kriminalroman, Gesellschaftspanorama, prächtiges Stilbilderbuch: Der dritte Roman von Marlon James ist ein meisterhaftes Monument moderner Literatur.

„Die Wahrheit, sie ist der schwierigste Teil. Und wenn’s nicht so war, dann war’s so ähnlich.“ In das Licht dieser beiden Zitate, einer Zeile aus Bonnie Raitts spätem Bluesrock-Klassiker „Tangled And Dark“ von 1991 und einem jamaikanischen Sprichwort, stellt Marlon James seine, 2015 mit dem renommierten Man Booker Prize ausgezeichnete, 850 Seiten starke „kurze Geschichte“ über das missglückte Attentat auf Bob Marley am 3. Dezember 1976 und dessen Konsequenzen für die Gesellschaft Jamaikas und darüber hinaus. Die deutsche Übersetzung des im Original bereits 2014 veröffentlichten Buches erscheint mitten in der Diskussion um die Fiktionalisierung und Instrumentalisierung von Wahrheit und kompliziert das Thema bereits in der Übersetzung des zentralen Wortes im Titel (englisch: „A Brief History Of Seven Killings“). Wo im Deutschen der Begriff „Geschichte“ Fiktion und Fakt zu gleichen Teilen meint, ist das englische „History“ etymologisch im Konzept des „Wissens“ als Folge des mit eigenen Augen „Sehens“ verwurzelt – mithin im Tatsachenbericht. In diesem Sinne bedient sich James dann auch eines Stilmittels, das die Annäherung an die Wahrheit und ihre Komplexität über die Schnittmengenbildung zum Ziel hat und in dieser Funktion etwa im New Journalism der späten 1960er- und 1970er-Jahre eine zentrale Rolle spielte: Er führt eine schier überwältigende Vielzahl von Figuren und Perspektiven an. Dem Text vorangestellt ist daher ein Register mit 76 (!) „handelnden Personen“, verteilt auf sechs Schauplätze und über drei deklarierte Zeiträume. All diesen gewährt James in fünf Großkapiteln mit unzähligen, chronologisch geschlichteten Abschnitten ihre Blicke, Gedanken und Stimmen. Schon in seiner strukturellen Anlage also ist „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ phänomenal. Doch es ist die, mit diesem Stimmenreichtum und dem fortwährenden Perspektivwechsel einhergehende, stilistische Vielfalt, die James‘ dritten Roman mit Blick auf die Kulturgeschichte seiner Heimat Jamaika, nach „John Crow’s Devil“ (2005) und „The Book Of Night Women“ (2009), zum Meisterstück macht. Dabei verliert er sich keineswegs in Manierismen oder technischen Spielereien, sondern schärft den Charakter der Figuren durch eine ihnen jeweils ganz eigene Sensibilität und Sprache. So wird das Buch als vielschichtiger Krimi und literarischer Kraftakt zum grandiosen Spektakel, fulminant und feingliedrig zugleich.

Fazit: Der Mordanschlag auf Bob Marley, eines der Lieblingsthemen von Verschwörungstheoretikern und Fake-News-Fanatikern, dient Marlon James in seinem dritten Roman als Ausgangspunkt für eine große, hochliterarische Abhandlung über Wahrheit und Lüge, Leben und Tod. Dass das Buch auch als Thriller funktioniert, unterstreicht seine herausragende Qualität nur noch.

Friedrich Reip