Walter Kempowski
„Bis heute rase ich wie angeschossen dahin.“
Zur Person
Walter Kempowski, am 29.04.1929 in Rostock als Sohn eines Reeders und einer Kaufmannstochter geboren, wurde in seinem literarischen Schaffen schon früh durch Walter Görlitz, einen Untermieter der Familie, beeinflusst. In der Nachkriegszeit arbeitete Kempowski dem amerikanischen Nachrichtendienst Counter Intelligence Corps zu, wurde von sowjetischen NWD gefangengenommen und verbrachte von 1948 bis 1956 im ehemaligen Zuchthaus Bautzen, einer Haftanstalt der sowjetischen Regierung. Nach seiner Tätigkeit als Grundschullehrer im Kreis Rotenburg/Wümme veröffentlichte Kempowski 1969 seinen ersten Roman „Im Block“, dem viele weitere autobiografische Werke aus der Reihe „Deutsche Chronik“ und das Echolot-Projekt, eine groß angelegte Collage aus Tagebüchern, Briefen und anderen Alltagszeugnissen, folgten. 2006 wurde bei ihm Darmkrebs diagnostiziert. Am 5.10.2007 erlag Kempowski seiner Krankheit in einem Krankenhaus in Rotenburg an der Wümme.
21.05.2004, Zeven. Bei Walter Kempowski daheim sieht es exakt so aus, wie man sich das bei Deutschlands penibelstem Sammler von historischen Fakten und gesellschaftlichen Zusammenhängen vorstellt: Überall lagern Bücher, Dossiers, Zettelkästen und Lose-Blatt-Sammlungen. Im Gespräch gibt sich der Schriftsteller hingegen sehr aufgeräumt und sortiert. Was nicht mehr verwundert, nachdem er gesteht: „Ich lasse mir häufiger Beruhigungsspritzen geben“.
Herr Kempowski, Sie gelten als der produktivste deutsche Schriftsteller. Man kennt Sie aus zahlreichen Talkshows; sogar auf MTV waren Sie zu sehen. Dabei sind Sie jenseits der 75. Wie geht es Ihnen?
Walter Kempowski: Nicht sehr gut, aber man schleppt sich so hin. Ich werde allmählich tüdelig. Beim Schreiben Gott sei Dank nicht, aber beim Täglichen. Ich habe zum Beispiel Angst, zum Haarschneider zu fahren, das ist doch sonderbar, oder? Es sind nur zwanzig Kilometer, die ich früher jeden Tag zur Schule fahren musste, also in- und auswendig kenne. Aber die Fahrt strengt mich an. Wenn man so lange fährt wie ich, und unfallfrei, da denkt man sich: Womöglich passiert es jetzt? Hinzu kommt der Zusammenprall mit Menschen – in Zeven laufen ja Leute auf der Straße herum, die man vielleicht übersieht. Die man zwar kennt, aber nicht erkennt. Und dann die geschwätzige Friseuse. Sie schneidet einen falsch und man hat nicht den Mut „Halt!“ zu schreien.
Sie fahren noch selber Auto?
Ich traue mich nicht mehr, ich habe richtig Angst davor. Die verschiedenen Zeichen: Einbiegung links, Einbiegung rechts, oder dass dann plötzlich ein Radfahrer aus der Querstraße kommt. Man kann das jemandem, dem Autofahren immer noch die zweite Natur ist, kaum begreiflich machen. Seit 1960 fahre ich jeden Tag Auto, und jetzt ist Schluss.