Teestube Jona

Dezember 2017 / Seite 2 von 3

„Da bettelt einer!“

„Wir wollen hier Wegbegleiter sein“, beschreibt Nadine Müller die Teestuben-Philosophie. Ein Wegweiser bleibe stehen, ein Wegbegleiter aber gehe mit. „Nur der Mensch selbst kann wissen, welcher Weg für ihn richtig ist.“ Aber es gebe natürlich Regeln. So sind etwa Alkohol und Rauchen im Wohnzimmer tabu. Dafür kocht das vierköpfige Team reichlich Tee und Kaffee – und versucht, Gespräche unter den Gästen anzuregen, um gegenseitiges Verständnis zu schaffen. Denn manchmal kommt es auch zu kleineren Konflikten. Plötzlich herrscht Aufregung in der Teestube. „Nadine, da bettelt einer“, schreit Thomas, der wieder auf seinem Platz sitzt, zweimal laut in den Raum. Ein Bettler kommt mit einem Schild um den Hals in die Teestube – und macht schnell wieder kehrt. „Tschuldigung“, ruft er noch in die Runde. „Skrupellose Leute, die selbst bei Armen betteln“, sagt Siegfried.

Eine Fahrt in ein Wohngebiet im Westen Frankfurts, wo die Projektgruppe Bahnhofsviertel, der Trägerverein der Teestube, vor 22 Jahren ein dreistöckiges Haus kaufte. Einige Teestubenbesucher bekommen hier vorübergehend ein Zimmer oder eine kleine Wohnung. Eine Sozialarbeiterin soll die derzeit sechs Männer dabei unterstützen, eine eigene Wohnung zu finden – doch das wird wegen der Wohnungsnot immer schwieriger. Einer der Bewohner ist Willi. Früher stand der kräftige Mann mit dem noch kräftigeren Händedruck mit beiden Beinen im Leben. Der 62-Jährige erzählt, wie er acht Jahre Fallschirmjäger bei der Bundeswehr war und mehrere handwerkliche Ausbildungen absolvierte. Für seine Familie baute er ein Haus, die Mutter der beiden Kinder war seine Jugendliebe. Doch dann, wie aus dem Nichts, die Diagnose: Krebs. Als das Haus fertig war, starb seine Frau.

„Man sagt, Obdachlose sind alkoholabhängig und stinken. Ich war immer das Gegenteil, habe Geld verdient und nie gesoffen – trotz Bundeswehr.“
Willi

„Da hab ich mein Leben auf Deutsch gesagt in der Tonne verbrannt.“ Die Kinder kamen zur Schwägerin, das Geld aus dem Verkauf des Hauses zahlte er ihnen auf ein Konto ein. „Ich konnte nicht anders.“ Mit einem kleinen Rucksack ist er abgehauen, „ohne Plan wohin“. 17 Jahre war er unterwegs. „Ich habe immer auf der Straße oder im Wald übernachtet.“ Der Mann mit den schwarz-grauen Locken zündet sich eine Zigarette an. „Ich war auf allen fünf Kontinenten. Und ich hatte Arbeit.“ Bei einer Spedition, als Koch, auf einer Schaffarm in Schottland. „Man sagt, Obdachlose sind alkoholabhängig und stinken. Ich war immer das Gegenteil, habe Geld verdient und nie gesoffen – trotz Bundeswehr.“ Aber Willi weiß auch: „Vielen Menschen setzt das harte Leben auf der Straße sehr zu.“ Während des Gesprächs ruft Willi öfter seine getigerte Katze zu sich. „Das Manko hier sind die vielen Vorurteile. Es heißt, Obdachlose taugen nichts, aber keiner fragt, warum jemand obdachlos geworden ist.“ Vor zehn Jahren kam Willi wieder nach Frankfurt – und wollte weg von der Straße. Die Teestube war seine Rettung. „Man wird älter. Vor allem das Aufstehen im Winter fällt schwer. Und es wird gewalttätiger auf der Straße.“ Einmal wurde auch er angegriffen – und konnte sich erfolgreich gegen die jungen Männer wehren. „Es wird immer auf Ausländer geschimpft, aber das waren Deutsche.“

Trotzdem hatte Willi Schwierigkeiten, sich in seinem neuen, kleinen Zuhause einzugewöhnen. „Ich kam anfangs nur zum Schlafen her.“ Eigentlich wollte er wieder weg. „Aber die Sozialarbeiterinnen haben mich ausgetrickst und überredet, mir eine Katze zu holen. Dann kam Hexe, und ich merkte, dass ich ihretwegen nicht mehr weg kann.“ Willi und die Sozialarbeiterin schauen sich an, beide lachen. Hexe reibt sich an seinem Bein.

860.000 Wohnungslose in Deutschland

Weil es eine von Sozialverbänden seit Langem geforderte amtliche Statistik nicht gibt, beruhen die Daten auf Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), in der viele Kommunen und freie Hilfsträger organisiert sind. So verfügten 2008 rund 227.000 Menschen über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum, 2016 gab es schon 420.000 Wohnungslose, davon sind 70 Prozent alleinstehend, acht Prozent minderjährig, 27 Prozent Frauen und 52.000 Menschen obdachlos. Außerdem waren 440.000 Geflüchtete wohnungslos, sodass es insgesamt 860.000 Wohnungslosen gab.

Der Staat bringt die Leute nicht mehr unter

Zurück im Bahnhofsviertel. Nur zweihundert Meter durch die Kälte sind es von der Teestube zum Hauptbahnhof, vorbei an parkenden SUVs und an Kiosken, die hier in Frankfurt Wasserhäuschen heißen und vor denen Männer Bier trinken. An der Südseite des Bahnhofsgebäudes leuchtet das Schild der Bahnhofsmission, weiter unten der Hinweis: ab 22 Uhr geöffnet. Hier wartet schon Gabriel, braune Lederjacke, schicke Jeans, schwarze Turnschuhe mit weißen Palmen drauf. Seit Anfang des Jahres ist er wohnungslos, die Stadt Frankfurt zahlt ihm ein Pensionszimmer. „Das ist klein wie eine Zelle, und wenn ich mich über die hygienischen Zustände beschwere, drohen die, mich rauszuwerfen.“ Trotzdem sei er froh, „nicht draußen schlafen zu müssen“. Gabriel ist heute zur Bahnhofsmission gekommen, um zwei Reportern das Viertel zu zeigen – aus der Perspektive eines Wohnungslosen. Dabei tut er das, was er immer tut. Mehrere Abende und Nächte pro Woche verbringt der 57-Jährige im Bahnhofsviertel, er läuft herum, redet mit Junkies und Obdachlosen, will sie unterstützen. „Ich halte meine Augen auf.“ Wenn Gabriel aufgeregt ist, beginnt er leicht zu stottern. Im Laufe des Abends verschwindet das gänzlich. Viele Gestrandete hat Gabriel kennengelernt, zu manchen Beziehungen aufgebaut. Er glaubt: „Den typischen Wohnungslosen gibt es nicht.“ Derzeit lebt er von Hartz IV, also von monatlich 409 Euro. Ab und an kauft er davon Brötchen und verteilt sie, oder er lässt Obdachlose in seinem Bett schlafen – und legt sich selbst auf den Boden.

„Für viele Leute ist es normal, in teuren Klamotten auszugehen, während auf der anderen Straßenseite den Menschen die Kleider vor Dreck vom Körper fallen, weil sie nichts anderes haben.“
Gabriel

Direkt vor der Bahnhofsmission fragt eine uralte Dame mit vernarbtem Gesicht, eingepackt in eine dicke Winterjacke, mit leiser Stimme nach der Uhrzeit. Sie will hinein in die warme Stube. Noch zwei Stunden muss sie warten. Plötzlich steht auch eine junge Frau mit Dreadlocks dabei. „Wisst ihr, wo es Streetworker gibt? Ich werde wohl bald obdachlos und will mich umschauen.“ 20 Jahre alt sei sie, gehe in Frankfurt zur Schule. „Doch ich kann nicht auf dem Bauwagenplatz bleiben, wo ich wohne. Ich weiß nicht, ob ich so schnell was Neues finde und das bezahlen kann.“ Gabriel schreibt ihr die Adresse der Städtischen Wohnungslosenhilfe auf. Ein Netzwerk für Wohnungslose ist durchaus vorhanden, es gibt Präventionsangebote, medizinische Ambulanzen und Notschlafstätten. Der Staat hat die gesetzliche Pflicht, Wohnungslose wie auch Asylbewerber unterzubringen – doch weil die Nachfrage steigt, wird das immer schwieriger, mancherorts noch mehr als in Frankfurt. In Berlin etwa leben bis zu 8.000 Menschen auf der Straße, insgesamt sind dort 40.000 wohnungslos.

Wenige Minuten später wächst die Gruppe vor der Bahnhofsmission weiter an. Ob das hier eine Wohnungslosendemo wird?

„Wir müssen was tun“, mischt sich der Mann Mitte 30 mit schwarzem Hosenrock und Glatze ein.
„Ja“, sagt Gabriel.
„Aber wir sind nur Einzelne.“

Stefan, der Glatzkopf, sagt: „Man muss nach Dingen schauen, die man ändern kann. Ich habe zum Beispiel gemerkt, dass Nutten sauwenig soziale Kontakte haben.“ Er wohne in einer Notunterkunft und müsse dafür 100 Euro von seinem Hartz-IV-Satz zahlen, erzählt er frustriert. „Ich hatte Stress und soziale Probleme, bin aus Frankfurt weggegangen. Als ich wiederkam, hab ich keine Wohnung gefunden. Aber was willste hier machen als Koch, wenn du nicht auf die Beine kommst?“

Gabriel will auch ihm Tipps geben, doch Stefan „will kein Penner sein“. Er schimpft auf Frankfurt, die Menschen, die Welt. Ohne weitere Worte zieht er ab. „Wenn jemand im unteren Drittel der Gesellschaft angekommen ist, steigt das Risiko enorm, weiter abzustürzen“, glaubt Gabriel.

Nur zehn Meter neben der Bahnhofsmission liegen unter dem Dach einer Bushaltestelle drei Matratzen auf dem Boden. Ein junger Mann und eine ältere Frau haben sich dort in Schlafsäcke eingehüllt. Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland etwa 300 Obdachlose erfroren, in Frankfurt passierte das zuletzt 2015, direkt hier vor dem Bahnhof, der täglich von Hunderttausenden Pendlern frequentiert wird. Warum tut sich Gabriel dieses ganze Leid und Elend fast täglich an? „Das hat sich so ergeben, durch meine Krankheiten“, sagt er. „Depressionen und zwei Suizidversuche, ein Hüftleiden und eine chronische Lungenerkrankung.“ Gabriel macht eine Pause, als würde er seinem Gegenüber Zeit geben, all das zu verarbeiten. „Ich bin krankgeschrieben, für den Arbeitsmarkt nicht tragbar. Aber ich bin da selbst schuld“, betont er. „Früher ging es mir gut, ich habe als Selbstständiger Radiowerbung verkauft und viel Geld verdient.“ Doch irgendwann ging das nicht mehr. Gabriel wollte nur noch weg, ohne all die Sorgen, die Schulden und die Trennung von seiner Freundin. Sein Plan: Dominikanische Republik, one way.

Doch kann man eine Depression am Flughafen zurücklassen wie ein überflüssiges Gepäckstück? „Ich hatte das gehofft, ja. Doch die kam natürlich ein paar Flüge später hinterher.“ Er versuchte, sich das Leben zu nehmen, wurde zweimal ausgeraubt. Unterstützt von der deutschen Botschaft kam er im Januar zurück, nur mit dem, was er am Leib trug. Eine Beratungsstelle der Caritas half ihm. „Denen verdanke ich mein Leben. Dort war ich mehr als nur eine Nummer.“ Ein Mensch, keine Nummer, das hat ihn beeindruckt. Und das will er nun zurückgeben. Aber er sagt auch ehrlich: „Das helfen hilft mir, es lenkt mich von mir selbst ab. Ich habe jetzt schon Horror, wieder allein in der Pension zu sein. Und dann sind da ja noch all die vergessenen Menschen, die sind einfach froh, wenn du ihnen zuhörst. Aber die meisten Leute können leider nichts anfangen mit Obdachlosen.“ Er läuft weiter. „Genauso wenig wie mit Depressionen.“

Zwischen den hektischen Pendlern humpelt ein Mann mittleren Alters vorbei und hält seinen Becher hin – wie so viele Menschen an diesem und all den anderen Abenden. Gabriel spricht mit dem Mann Ungarisch, eine von fünf Sprachen, die er beherrscht. Dann geht er weiter. „Ich höre den Leuten zu, aber ich gebe kein Geld, ich habe schon zu viel hiergelassen. Ich bin da mittlerweile konsequent.“ Außerdem wollten viele Menschen mit Almosen bloß ihr Gewissen freikaufen.

Mutmaßungen aus der Distanz

Laut einer Caritas-Studie aus dem Jahr 2008 hatten nur vier Prozent der Deutschen persönlich schon einmal Kontakte zu Obdachlosen. Der Sozialpsychologe Rainer Banse erklärt das so: „Die Institutionalisierung sozialer Verantwortung durch den Sozialstaat lässt das persönliche Verantwortungsgefühl in den Hintergrund treten. Außerdem wird unsere Hilfsbereitschaft geschmälert, wenn wir glauben, jemand sei selbst verschuldet in Not geraten.“ Doch der Psychologieprofessor hat dafür noch eine andere interessante Erklärung: „Es ist einfacher, aus sicherer Distanz zu mutmaßen, dass Obdachlose ihr Schicksal selbst gewählt haben oder daran schuld sind, als in einem persönlichen Gespräch zu erfahren, dass sie womöglich ohne eigenes Verschulden da hineingeraten sind. Denn das würde bedeuten, es kann uns alle schuldlos treffen.“ Und davor haben wir Angst: „Das könnte unseren tief verwurzelten Glauben an eine gerechte Welt zerstören. Damit wollen wir nicht konfrontiert werden.“

Gabriel setzt seine Tour fort, vorbei an Tanzlokalen und Laufhäusern, an Imbissen aus aller Welt und schick sanierten Häusern. Sirenen heulen, junge Partygänger verlachen einen auf dem Boden sitzenden Mann. Das Bahnhofsviertel schläft nie, es ist zugleich Problem- und Szeneviertel – und der einzige Ort, an dem Frankfurt eine echte Großstadt ist. In der Elbestraße kauern 20 Junkies vor einem Konsumraum auf dem Asphalt. In solchen Einrichtungen können Süchtige unter sauberen Bedingungen Drogen nehmen – fast 5000 Menschen nutzen in der Mainmetropole diese Möglichkeit. Mit diesem pragmatischen „Frankfurter Weg“ nahm die Stadt bundesweit eine Vorreiterrolle ein und senkte seit den 1990ern die hohe Zahl an Drogentoten. Doch seit ein paar Jahren sind die Drogen wieder verstärkt in den Fokus geraten.

Ständig patrouillieren Streifenwagen, Polizisten kontrollieren junge Männer. Dennoch, so gefährlich ist es gar nicht: „Die Gewalt der Drogenszene geht eher nach innen“, sagt ein Polizist. Es heißt, dass nun viel Crack geraucht wird – kleine „Steine“ aus Kokain und Natron mit hohem Abhängigkeitspotenzial. Einer Frau, die fast noch wie ein Kind wirkt, sieht man die Wirkung der Droge an: Ihr Gesicht ist bleich, die Hände aufgequollen, der Blick vernebelt. Sie spricht Gabriel auf Ungarisch an. Dann legt er ihr ein paar Münzen in den zerrissenen Pappbecher. „Sonst wäre ich sie nie losgeworden“, sagt er fast entschuldigend, als er seine eigene Regel bricht. Wer wie Gabriel hinschaut, sieht die Armut hier überall – ohne immer zu wissen, wer nun wohnungs- oder obdachlos ist. So sind nur 20 Prozent der Süchtigen in den Druckräumen wohnungslos, viele kommen auch von außerhalb. Insgesamt gibt es in Frankfurt über 7.000 Wohnungslose.

Wohnungsnot in Deutschland

1987 gab es alleine in Westdeutschland über vier Millionen Sozialwohnungen, heute sind es bundesweit nur noch 1,3 Millionen. Ende der 1980er schaffte die Politik die steuerliche Förderung von sozialem Wohnungsbau ab – und überließ das Wohnen dem Markt. So sind die Mieten in Metropolen mit über 500.000 Einwohnern laut dem Bundesbauinstitut in den vergangenen zehn Jahren um die Hälfte gestiegen. Weil die Mietpreisbremse nicht funktioniert, der Zuzug in die Städte ungebrochen ist und der Bund die Baukompetenz 2006 an die Länder abgegeben hat, ist derzeit kaum Besserung in Sicht.

Seite 2 von 3