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Teestube Jona

Die neue Normalität unter der Skyline

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  • Felix Schmitt
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Frankfurt gilt als reiche Finanzmetropole – doch auch hier nimmt die sichtbare Armut zu. Immer mehr Obdachlose leben auf der Straße, immer mehr Menschen müssen bei Freunden oder in Notunterkünften schlafen. 2016 gab es bundesweit insgesamt rund 860.000 Wohnungslose – das sind viermal so viele wie 2008. Wie kann das sein? Wie verliert man im reichen Deutschland seine Wohnung? Ein Besuch in einem Übergangswohnheim für gestrandete Männer sowie in der Teestube Jona – dem Wohnzimmer der Wohnungslosen im Frankfurter Bahnhofsviertel. Danach führt ein Wohnungsloser durch die verruchte Rotlichtgegend und in die Bahnhofsmission.

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Frankfurt am Main, Finanzhauptstadt und eine der reichsten Metropolen der Republik. Der drittgrößte Flughafen Europas ist das Tor zur Welt. Die Europäische Zentralbank, die Bundesbank und die vier bedeutendsten Geldinstitute des Landes haben hier ihren Sitz – nirgendwo in Deutschland ragt das Machtstreben der Kapitalelite höher in den Himmel. Frankfurt, das ist Skyline, Business und Betriebsamkeit. Doch mitten in der Finanzmetropole schlägt auch noch ein anderes Herz. Aus den Bordellen erstrahlt die ganze Nacht rotes Licht, Bettler halten ihre Pappbecher hoch, der Geruch von Urin liegt in der Luft. Am Straßenrand rauchen Junkies Crack. Das Bahnhofsviertel mit seiner ausgeprägten Drogenszene und der offenen Prostitution stand lange wie kein anderer Stadtteil für dieses andere, verruchte Frankfurt.

Heute ist die lediglich einen halben Quadratkilometer große Gegend zwischen Bahnhof und Wolkenkratzern ein Schmelztiegel unterschiedlichster Milieus. In manchen Straßen prägen orientalische Teehäuser und asiatische Märkte das internationale Bild. Zwischendrin: schicke Restaurants, teure Hotels und frisch renovierte Gründerzeitbauten. Geschäftsleute in Kostümen oder Anzügen eilen von der Arbeit zum ICE, bärtige Hipster erklären in Szenebars wild gestikulierend die Welt. Alle sind hier auf der Suche. Und trotz Gentrifizierung und Verdrängung scheinen alle irgendwie ihren Platz zu finden – selbst diejenigen, die gar kein Zuhause haben. Sozialverbände gehen in Frankfurt von mindestens 300, die Stadt von rund 200 Personen aus, die in der Mainmetropole auf der Straße leben – das sind fast doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Und so zeigt sich die Obdachlosigkeit im Schatten der Bankentürme immer deutlicher im Stadtbild: Menschen, die eingehüllt in Schlafsäcke auf Parkbänken schlafen, in Hofeinfahrten liegen oder auf dem kalten Beton.

Ob in Berlin, Hamburg oder Frankfurt, ob in München oder Köln – in allen Großstädten dieser Republik nimmt diese Form von sichtbarer Armut zu. Mitte November gab die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) bekannt, dass sich die Zahl der Obdachlosen in Deutschland seit 2008 mehr als verdoppelt hat – auf nun rund 52.000 Menschen, die in der Bundesrepublik „Platte machen“ und draußen übernachten. Ihnen haftet das Stigma des Scheiterns an, das Leben auf der Straße zehrt an den psychischen und physischen Kräften. Obdachlose leiden häufig an medizinischer Unterversorgung, ihnen ist kalt, sie haben Hunger. Diese Menschen sind der meist sichtbare – und dennoch nicht unbedingt der repräsentative Teil der Betroffenen. Insgesamt schätzt die BAGW die Zahl der Wohnungslosen nämlich auf 860.000. Sie alle verfügen über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum, haben aber meist ein Dach über dem Kopf: Die Mehrheit der Wohnungslosen lebt übergangsweise bei Freunden, in Wohnheimen, Pensionen oder Notunterkünften.

Ein Wohnzimmer für Menschen ohne Wohnung

Seit mehr als 30 Jahren ist die Teestube Jona eine feste Institution im Frankfurter Bahnhofsviertel. Der Hauptbahnhof ist nicht weit und gleich gegenüber liegt die Haltestelle für Fernbusse, ein provisorischer Container, wo Reisende aus ganz Europa ankommen. Manche warten sogar direkt vor der Teestube auf ihren Bus nach Hamburg, Budapest oder Bukarest – ohne zu wissen, was genau sich im kleinen, gemütlich erleuchteten Raum hinter der großen Glasscheibe verbirgt. Dort stehen weiße Tische und rote Stühle, an den Wänden hängen Fotos aus drei Jahrzehnten. Es herrschst Teehausatmosphäre, ein leises Stimmengewirr durchzieht den Raum. Der Kaffee in der kleinen, offenen Küche kostet 30 Cent. „Dieser Ort ist bunt wie das Viertel. Man weiß nie, wer durch die Tür kommt“, sagt Nadine Müller, die seit sechs Jahren in der Teestube arbeitet und diese seit Kurzem leitet. Sie lächelt, man sieht ihr an: Die 28-jährige Sozialarbeiterin mag ihren Beruf. „Hier sind alle willkommen. Vor allem sehen wir uns aber als Wohnzimmer für Menschen ohne Wohnung.“ Nadine Müller und ihr Team helfen den Gästen beim Ausfüllen von Anträgen und bei der Wohnungssuche, manchmal geht es aber auch um häusliche Gewalt – oder einfach um ein kaputtes Handy. Die meisten ihrer Besucher kennt sie beim Namen, es dürften mehr als 400 sein. Schon vor zehn Jahren kamen täglich 45 Menschen, heute sind es im Schnitt doppelt so viele. Ein Viertel von ihnen sind Frauen, 40 Prozent der Gäste schlafen draußen.

„Dieser Ort ist bunt wie das Viertel. Man weiß nie, wer durch die Tür kommt.“
Nadine Müller über die Teestube Jona

Auch an diesem Abend sind fast alle der 30 Plätze belegt. Ein Mann mit schwarzer Mütze und großen Kopfhörern sitzt vor einem Laptop, andere debattieren und lachen. Einer von ihnen, Siegfried, beginnt sofort das Gespräch – und redet ununterbrochen über Architekturgeschichte, Denkmalschutz und Statik. Auf Nachfrage erzählt der Mann mit dem Kapuzenpulli und dem Fünftagebart, früher sei er „eine Weile wohnungslos“ gewesen und „privat untergekommen“. Über die Gründe möchte der 63-Jährige keine Auskunft geben, kurz spricht er von einer Trennung. „Ich wohne jetzt in so einem Haus, doch das soll saniert werden. Die werfen mich bestimmt wieder raus. Und mit meiner kleinen Rente kriege ich ja nichts mehr.“ Andere Besucher sind zurückhaltender. Ein älterer, bärtiger Mann mit fülliger Statur beobachtet stundenlang das Treiben. Sprechen will er lieber nicht. Dann kommt Markus. Der 30-Jährige im blau-weiß karierten Hemd setzt sich an den Tisch, seine braunen Haare sind adrett nach oben geföhnt. Er beginnt das Gespräch mit Fragen: „Warum tun Sie das? Welche Botschaft wollen Sie transportieren in Ihrem Artikel?“

„Es geht um Wohnungslosigkeit.“
„Ich weiß nicht, ob ich der typische Wohnungslose bin“, sagt Markus.
Kurzes Schweigen. Was ist das eigentlich, ein typischer Wohnungsloser?
„So jemand hatte vielleicht eine Ehekrise oder den Job verloren – und natürlich seine Wohnung.“

Markus achtet auf seine Worte, spricht bedächtig, fast belehrend. „Unter Wohnungslosen werden Sie vermutlich eher ältere Herren und weniger Leute mit Abitur finden.“ In puncto Alter und Geschlecht trifft seine Beschreibung gut auf die Klientel der Teestube zu. „Und was ist mit Ihnen, warum haben Sie Ihre Wohnung verloren?“ Markus lächelt. „Es sitzt jemand vor Ihnen, der sich viel mit der Armuts- und Wohnungskrise befasst hat.“ Markus möchte lieber über diese Krisen als über seine Geschichte sprechen. „Die teuren Mietpreise haben mit den Finanzmärkten zu tun, die viel Geld in die Immobilienbranche schwemmen. Die Gefahr von Wohnungslosigkeit trifft immer mehr Menschen, die nicht das nötige Einkommen haben.“ Markus klingt wie der Pressereferent einer Soziallobby. Schnell wird im Gespräch deutlich: Er will als Experte wahrgenommen werden, nicht als (womöglich) Betroffener. Er weiß um gängige Vorurteile – so wie viele Wohnungslose.

Kaum jemand entspricht den Klischees

Laut Thomas Specht, Geschäftsführer der BAGW, sind vor allem Obdachlose „das archetypische Bild“ der Armut. „Dem, der hilflos und womöglich betrunken in der Gosse liegt, wird unterstellt, dass er sich quasi selbst dorthin gelegt hat. Doch die Realität ist viel komplexer.“ Das wird in der Teestube deutlich: Kaum jemand entspricht hier den Klischees. Und so warnt auch Thomas Specht vor Verallgemeinerungen: „Das Stereotyp des verwahrlosten Obdachlosen wird generalisiert, doch die meisten Wohnungslosen leben gar nicht auf der Straße, und selbst manche Obdachlose ziehen sich so an, dass man sie nie als solche erkennt.“ So wie Markus? Ein letzter Versuch, ihm Persönliches zu entlocken: „Wo schlafen Sie heute Nacht?“ „Menschen, die ihren Job und ihre Wohnung verlieren oder Schulden haben, denen hilft es nicht zu erzählen, ob ich heute bei einem Kumpel übernachte oder in einem Hostel oder sogar...“ Kurz lacht Markus, fast beiläufig, dann redet er wieder über die Wohnungs- und die Armutskrise.

Auf diesen Zusammenhang verweist auch der Fachmann Thomas Specht: „Zwar sind individuelle Krisen und Schicksalsschläge wie Krankheit, Trennung oder Jobverlust oft der Auslöser für den Wohnungsverlust. Doch entscheidend ist das soziale und vor allem das sozialstaatliche Umfeld, in dem persönliche Krisen immer öfter bis in die Obdachlosigkeit führen.“ Seit Jahren nimmt die Armut hierzulande zu. Im vergangenen Jahr lebten in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, laut Statistischem Bundesamt rund 13 Millionen Menschen in Armut – also von weniger als monatlich 969 Euro. Unter ihnen sind auch viele ältere Menschen, die sich kaum eine Wohnung leisten können. Wer heute in Frankfurt eine Bleibe sucht, zahlt als Neumieter im Schnitt 13 Euro pro Quadratmeter, nur München ist noch teurer. Für eine Zweizimmerwohnung werden in der Bankenmetropole also schnell 800 Euro fällig – Kaltmiete.

Viele Rückzugsräume für Wohnungslose gibt es nicht − die Teestube Jona ist solch ein Refugium, vor allem in den Abendstunden.

Ein Mann mit schwarzem Sakko und grauen Haaren sitzt in der Teestube alleine an einem kleinen Tisch. Er liest Zeitung. Wie alt er wohl ist? „Zwei hoch sechs“, sagt er und lächelt. Er stellt sich als „Lehrer Werner“ vor. Mathe und Sport habe er unterrichtet, bevor er seinen Job verlor. Eine Wohnung habe er noch, „aber dort ist es kalt und kahl, ich gehe da nur zum Schlafen hin. Ich habe kein Geld zum Renovieren.“ Am Nachbartisch unterhält sich Architekturexperte Siegfried mit einem alteingesessenen Hessen, das hört man am Dialekt. Sie reden über den „Hammermörder“, einen Serientäter, der 1990 in Frankfurt mehrere Obdachlose ermordete. „Früher haben wir Berber auf der Straße aufeinander aufgepasst. Heute ist jeder für sich“, sagt Thomas, grauer Bart, schwarze Jacke. Er spricht langsam, bewegt sich auch so, lacht immer wieder laut. In jungen Jahren hielten ihn Gelegenheitsjobs über Wasser, er war ungelernter Hilfsarbeiter bei Opel, hat „hier und da für einen Appel und ein Ei“ gearbeitet. Heute würde man sagen: Thomas war im Niedriglohnsektor tätig, der durch die rot-grüne Hartz-Reform längst zum Massenphänomen geworden ist. Nachdem Thomas damals seine Wohnung gekündigt wurde, lebte er mehrere Jahre auf der Straße und in Übergangswohnheimen. „Ich habe auch Fehler gemacht. Aber ohne Wohnung kriegt man noch schwerer eine Arbeit.“ Es ist dieser Teufelskreis, von dem viele Betroffene berichten: Ohne Wohnung bekommt man kaum einen Job, ohne Job keine Wohnung. Und manchmal auch kein Bankkonto. Thomas erzählt, er habe durch staatliche Hilfe wieder eine eigene Bleibe. „Ich will als Rentner einfach ein gerechtes Leben führen“, sagt der 67-Jährige, lacht und geht vor die Tür. Rauchen.

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