Joseph Weizenbaum Norbert Bolz

Joseph Weizenbaum Norbert Bolz

Übersehen wir das große Ganze?

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14.12.2005, Berlin. Im 14. Stock des Telefunken-Hochhauses der Technischen Universität sitzen sich zwei Theoretiker des Fortschritts gegenüber, die unterschiedlicher kaum sein könnten: die 83-jährige Informatik-Ikone Joseph Weizenbaum und der Medienphilosoph Norbert Bolz, 52. Ein Streitgespräch.

Herr Weizenbaum, Herr Bolz: Waren Sie beide heute schon im Internet?

Joseph Weizenbaum: (schnauft) Ich ja.

Dann haben Sie meine Mail erhalten?

Weizenbaum: Nein. Es funktionierte mal wieder nicht, und um stundenlang daran rumzufummeln, fehlte mir die Zeit. Aber ich habe mein Laptop dabei. Wenn nötig, kann ich meine Post auch hier abrufen. Was ich sehen konnte: Es waren exakt 871 neue Mails – von denen bestimmt acht interessant sind...
Norbert Bolz: ... und über 700 Viagra-Angebote. (lacht) Ich war ebenfalls noch nicht online, ich gehe generell nicht ins Netz, bis sich mal eine entspannte Viertelstunde findet. Es gibt keine Mail, die so dringend wäre, dass ich sie unmittelbar lesen und beantworten müsste. Glauben Sie es oder nicht: Ich habe in meinem Leben ganze zwei Aufträge verpasst, weil ich nicht in Echtzeit kommuniziert habe. Wir sind keinesfalls Sklaven unserer Medien, wie es immer so gern formuliert wird.
Weizenbaum: Ich glaube allerdings, dass das Problem tiefer geht. Im Geschäftsleben ist durchaus eine Dringlichkeit da; zumindest wird das behauptet. Man bekommt eine E-Mail, und der Absender erwartet ziemlich sofort eine Reaktion. Das allein hat eine Auswirkung. Man wird dazu genötigt, in Eile Entscheidungen zu treffen, die auf den ersten Blick vielleicht trivial aussehen mögen, bei denen sich aber später herausstellt, dass sie doch wichtig waren, weil sie nämlich einen Rattenschwanz an Konsequenzen nach sich ziehen. Ganz davon abgesehen, dass Sie nie wissen können, wer früher oder später Zugriff auf diese Informationen hat. Einen Brief kann man zerreißen; oder sagen, man habe ihn nie bekommen. Löschen Sie dagegen eine E-Mail, ist sie womöglich immer noch existent. Es gibt keine absoluten Garantien.
Bolz: Da ist sicher was dran. Allerdings ist diese Problematik der Dringlichkeit nicht durch E-Mails in die Welt gekommen, sondern der modernen Gesellschaft insgesamt eigen. Früher handelte es sich eben um ein Fax, das sich als solches schon dringlich gebärdet: Es kommt sofort aus der Maschine heraus – und womöglich steht noch „Eilt!“ oder „Sofort vorlegen!“ darauf. Das ist längst ein generelles Organisationsprinzip geworden. Die moderne Gesellschaft benutzt Zeit, um Komplexitätsprobleme zu managen. Besonders deutlich wird das in der Umkehr: Hat jemand Zeit, ist das schon mal ein schlechtes Zeichen. Der ist entweder arbeitslos oder irrelevant. Haben Sie heute Zeit, wecken Sie automatisch Zweifel an Ihrer Kompetenz. Unsere Kultur benachteiligt sämtliche Techniken, die mit Zeitverbrauch assoziiert werden.

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