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Heroes

Retter der Tafelrunde

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  • Daniel Hofer
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Die Berliner Team des Gleichberechtigungsprojekts „Heroes“ setzt sich an Schulen gegen die Unterdrückung im Namen der Ehre ein und folgt dabei einem ungewöhnlichen Konzept. Dafür werden junge Männer mit Migrationshintergrund aus sozialen Milieus mit strikten Ehrvorschriften rekrutiert, um gewaltpräventive Workshops in der eigenen Nachbarschaft zu leiten. Was sich zunächst kompliziert und theoretisch anhört, wird schnell anschaulich und konkret, wenn man einem ihrer Meetings beiwohnt. Die Laune ist bestens, die Zuversicht groß, und die Argumente sind auf ihrer Seite. Außerdem gibt es Kekse.

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Die Heroes von Neukölln sind nicht ganz leicht zu finden. Ihr Hauptquartier liegt an der Hermannstraße, einer der drei Magistralen des Stadtteils, aber an der angegebenen Adresse läuft man erst einmal vorbei. „Da hat wohl mal wieder einer das Schild abgerissen“, sagt Can Alpbek und argwöhnt: „Wahrscheinlich als Trophäe.“ Die jungen Männer im Raum lachen, unbekümmert, sportlich. Dies passiert – abseits von drei Einbrüchen – zum ersten Mal aber auf irgendeine verquere Art ist es sogar die Kleinlichkeit des Diebstahls, die ihnen Mut macht. Berlin-Neukölln, das ist seit etwa zehn Jahren ein Schreckgespenst, mit dem man vor allem Leuten Angst machen kann, die nicht hier wohnen. Also den meisten. Wer hier wohnt, nimmt vor allem Gegensätze wahr, die so nah beieinanderliegen, dass man manchmal nicht weiß, ob man die Mischung feiern oder das Gefälle betonen soll. Der nah gelegene Schillerkiez machte das Phänomen der sogenannten Gentrifizierung zuletzt in Rekordgeschwindigkeit durch: Wo man vormals in Hundehaufen und Glasscherben trat, gibt es jetzt vegane Cafés und All-Hours-Bars für ein junges, internationales Publikum, das erst einmal kein Geld, aber dafür jenes Kreativkapital mitbringt, das vor allem Makler und Grundeigentümer zu schätzen wissen. Auf der anderen Seite bleiben die Probleme in Neukölln unübersehbar. Bei einer Arbeitslosigkeit von etwa 15% lebt fast ein Viertel der Einwohner von Sozialleistungen. Die Kinderarmut beträgt knapp 75%, mehr als 20% bleiben ohne Schulabschluss, und der Anteil der Einwohner mit Migrationshintergrund betrug im letzten Jahr 53%. Es sind Zahlen, die für sich genommen nicht unbedingt in einem Zusammenhang stehen, die aber das Bild des Stadtteils prägen: lebendig und geschäftig, dabei aber arm und manchmal nicht ganz so sexy.

Dafür ist Neukölln medienerfahren. Wenn Heinz Buschkowsky spricht oder die Rütlischule brennt, rücken die Kamerateams an, und mit ihnen die Politiker. Auch bei den Heroes wurden Medienvertreter und Lokalpolitiker schon vorstellig. Fototermin, Preisübergabe, Schulterklopfen, gut gemacht. Das Projekt bietet schließlich ein unwiderstehliches Angebot: soziales Engagement, aus dem Kiez für den Kiez, irgendwie tagesaktuell und alles auf Eigeninitiative. Eine Erfolgsstory. Danach sah es nicht unbedingt von Anfang an aus. Die Idee der Heroes wurde Ende des letzten Jahrzehnts aus Schweden importiert. Dort hatte sich ein kleiner Verband gegründet, der Emanzipation von einer anderen Richtung aus dachte. Weil überall auf der Welt Männer mehr Macht und mehr Einfluss auf die Realität und damit auch auf die Veränderbarkeit derselben haben, wurden sie gezielt als Schutzpaten einer Idee angeworben, die patriarchale Strukturen in ihrem Selbstbewusstsein hinterfragt. Konkret ging es um ein Gleichstellungsmodell, das die Unterdrückung von Mädchen und Frauen im Namen der Ehre bekämpfen will – ein kulturelles Mitbringsel vieler migrantischer Communities, letztendlich aber auch ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Dafür, dass es sich um einen solch umfassenden Auftrag handelt, muten die Räumlichkeiten der Berliner Heroes bescheiden an. Zwei neonbeleuchtete Zimmer im Hochparterre, ein paar Stühle und Sofas um einen Tisch, auf dem Kekse und Gummibärchen ausliegen – es könnte der Clubraum einer Selbsthilfegruppe sein oder das Domizil einer Kartenrunde, aber dafür ist die Stimmung zu ausgelassen. Außerdem hat nicht jeder Hobbyverein ein Camus-Zitat an der Wand hängen: „Nichts ist erbärmlicher als Respekt, der auf Angst beruht.“ Wie an jedem Montagabend versammeln sich die Heroes zur Lagebesprechung, und wie immer gibt es etwas zu berichten. Can Alpbek und Asmen Ilhan kommen gerade zurück von einem Schulbesuch in der Nachbarschaft. Ein Lehrer hatte die Heroes angefordert, er hatte über Mundpropaganda von dem Projekt erfahren. Das ist inzwischen leichter als früher, denn mittlerweile gibt es bundesweit sieben Standorte, dazu zwei in Österreich. In Neukölln sind sechs Gruppen unterwegs: ehemalige Schüler, die vor Ort für etwas einstehen wollen, das ihnen am Herzen liegt.

Zwischen Tradition und Moderne

„Es gibt Kulturen, in denen Kollektivismus höher veranschlagt wird als Individualismus, in denen es Menschen nicht gelernt haben, ihr Leben selber zu gestalten“, sagt Martina Krägeloh. „Persönliche Meinungen und Emotionen bekommen da keinen Raum. Stattdessen haben die Menschen von Anfang an gelernt, sich zurückzustellen, zu kooperieren und sich zu fragen: Was wird von mir erwartet, welche Rolle soll ich erfüllen?“ Krägeloh ist Sozialpädagogin und seit etwa einem Jahr die Leiterin des Heroes-Projekts in Berlin. Die Hierarchien sind flach: Es gibt mehrere Trainer – Veteranen der Bewegung –, die Jugendliche zu „Heroes“ ausbilden. Dabei handelt es sich um junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren, die sich mit den Zielen der Gruppe identifizieren und einen Gedankenansatz verfolgen, der in Neukölln stellenweise explosives Potenzial hat. Es geht um die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die am Arbeitsplatz gesamtgesellschaftlich bis jetzt ein hehrer Wunsch ist, für Rainer Brüderle wahrscheinlich nach wie vor ein Herrenwitz, und für viele Neuköllner ein lebensanschauliches Problem. Denn in vielen türkischen und arabischen Haushalten gehört dieses Konzept zu einer dezidiert westlichen Lebenswelt, die rundheraus abgelehnt wird, weil sie sich angeblich nicht mit den althergebrachten Traditionen vereinbaren lässt.

Hier liegt der Ansatz des Projekts, denn alle Heroes kommen direkt aus dem Stadtteil, aus Familien mit Migrationshintergrund, aus Milieus, über die man redet, ohne mit ihnen zu reden. „Nicht umsonst kommen wir hier mit einer Kultur in Kontakt, die großen Wert auf Traditionen legt“, sagt Yilmaz Atmaca. „Das kann leider auch dazu führen, dass die Werte der Gruppe über dem Individuum stehen und man bestimmten Personen aufgrund ihres Geschlechts eine bestimmte Rollenverteilung auferlegt. Unser Ziel ist es, den Leuten die Alternative anzubieten, dass sie selber ihr Leben gestalten können. Dass sie Fragen stellen, mitdiskutieren, ihre Meinung äußern, zuhören können. Dass sie vor allem nicht im Namen einer bestimmten Gruppe sprechen, sondern für sich. Deswegen müssen wir die einzelnen Personen persönlich erreichen und dazu einladen, nicht in der Kategorie des Wir zu denken. Es kommt darauf an, ihr Selbstwertgefühl zu erreichen, indem man ihnen vermittelt: ‚Es ist mir wichtig, was du selbst sagst. Ich möchte wissen, wie du dich gerade fühlst, und nicht, wie es deiner Gruppe, deiner Familie, deiner Kultur geht.’ Das ist der Schritt, den wir in diesen drei Stunden, in denen wir vor der Schulklasse stehen, erreichen wollen.“

Atmaca ist der dienstälteste Gruppenleiter bei den Heroes, ein charismatischer Mann mit athletischem Körper und leicht exzentrischem Bartzopf. Seine Stimme wirkt immer dann am autoritärsten, wenn sie leise ist, und entsprechend gebannt hört der Rest der Gruppe zu. Beim heutigen Treffen möchte er über den Kulturbegriff reden, der viel von dem definiert, mit dem nicht nur seine Schützlinge, sondern die ganze Nachbarschaft Schwierigkeiten hat. Zwischen der deutschen Identität und der des Herkunftslandes existiert nämlich ein Spannungsfeld, das manchmal reale Konsequenzen hat. Denn während sich die Claqueure von Björn Höcke und Co. dem Fiebertraum von einem nationalistischen Fantasiedeutschland hingeben können, dürfen sich die Heroes mit einer Realität herumschlagen, die ungleich komplexer ist. Geboren sind sie schließlich alle hier, doch das bedeutet nicht, dass ihr Verhältnis zu den zwei Kulturen, die als Heimat infrage kommen, unbelastet ist.

Das Schweigen der Currywurst

„Uns wurde in der dritten Klasse mal die Frage gestellt, ob wir Schweinefleisch essen“, erinnert sich Nesimi, einer der aktuellen Heroes. „Es war zwar so, dass bei uns zu Hause auch ab und zu mal eine Currywurst auf den Teller kam, aber in einer Klasse mit zwanzig Türken, fünf Arabern und vielleicht einer Deutschen habe ich lieber nicht aufgezeigt. Ich wusste, wenn ich mich jetzt melde, geht das für die letzten zwei Jahre in der Grundschule nicht gut aus. Das klingt jetzt vielleicht lustig, aber so weit reicht das: dass ein Drittklässler sich selbst unterdrückt, weil seine Gesellschaft es so möchte.“ Die Currywurstepisode war für Üzüm ein erster Fingerzeig auf ein systemisches Problem, dessen er sich mit 15 Jahren dann vollends bewusst wurde. „Die Frage, wer man sein will, wird in der Community, mit der wir uns beschäftigen, noch einmal anders gelebt“, sagt er. Und das hört eben auch nicht bei der Speisekarte auf. „Das, was man sein kann, wird schon vorher definiert, weil man in diesen patriarchalen Strukturen einer komplett festgelegten Rollenverteilung begegnet.“ Dieser Rollenverteilung begegnen die jungen Männer immer wieder in den Klassenräumen, die sie selbst erst vor Kurzem verlassen haben und in die sie jetzt als „Heroes“ zurückkehren, um sogenannte Workshops zu geben und über Themen zu diskutieren, von denen sich viele Schüler nicht eingestehen können, dass sie ihr Denken bestimmen, ohne deswegen ihrer eigenen Meinung zu entsprechen. „Diese Workshops sind als Eisbrecher gedacht“, sagt Martina Krägeloh. „Meistens sind es die Lehrer, die sich an uns wenden, weil sie das Gefühl haben, dass die Thematik in der Klasse vorhanden ist. Dann führen wir zunächst ein langes Vorbereitungsgespräch mit der Klassenleitung und versorgen die Lehrkräfte mit Informationen. Unser Wunsch ist dabei natürlich, dass das alles in den Unterricht eingebettet, das Thema also nach dem Workshop weitergeführt wird.“ Der Workshop selbst wird von einem Gruppenleiter und zwei Heroes, die sich zuvor in der einjährigen Projektausbildung befanden, durchgeführt. Einer davon ist Can Alpbek, der trotz seines jugendlichen Aussehens schon mit jeder Menge Erfahrung und der dazu passenden Selbstsicherheit auftritt.

„Ein Workshop sieht so aus, dass wir direkt in Schulklassen gehen, in der Regel in die Jahrgänge der achten bis zwölften Klassen“, erklärt er. „Wir stellen uns vor und sagen erst einmal nicht viel zu dem Projekt, sondern erwähnen nur das Motto: Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre. Nach der Vorstellungsrunde steigen wir direkt ein mit der Frage, ob denn auch alle wüssten, was Ehre sei. Da hört man dann oft schon die ersten Kommentare: ‚Na klar.’ Aber wenn wir genauer nachfragen, herrscht meistens Stille. Ehre ist offenbar ein Begriff, der immer im Raum steht und eine wichtige Rolle spielt, ohne für die Jugendlichen greifbar zu sein. Sie können ihn nur schwer definieren. Wir kriegen oft zu hören, dass es etwas ist, das mit der Familie und den Frauen in der Familie zusammenhängt, mit Stolz und mit Würde. An dieser Stelle versuchen wir anzusetzen und die Diskussion auf die spezifischen Themen der Jugendlichen zu lenken. Das kann Gleichberechtigung sein, die familiäre Beziehung untereinander oder wie heute zum Beispiel Homosexualität. Dabei geben wir keine festen Meinungen vor, sondern versuchen das kritische Hinterfragen anhand einiger Beispiele zu fördern. Diese Beispiele sehen so aus, dass wir vier oder fünf Rollenspiele aufführen, die alltägliche Situationen teils überspitzt darstellen, die die Jugendlichen aber alle kennen.“

Hier kommen die Heroes ins Spiel, von denen alle das ausgesprochen lebensechte Rollenspielrepertoire draufhaben, das den Workshops viel von ihrer Anschaulichkeit gibt. Nach deren Aufführung kann man sich lebhaft vorstellen, wie gut die Aktion vor einer Schulklasse ankommen kann. „Da gibt es zum Beispiel die typische Situation, in der der Vater nach Hause kommt und seine Tochter sucht“, erläutert Alpbek. „Er findet aber nur seinen Sohn vor der Playstation und motzt ihn an, warum er seine Schwester nach Anbruch der Dunkelheit nicht suchen geht. Der Junge ruft daraufhin bei einem Freund an. Dieser Kumpel übernimmt dann so ein bisschen die Hetzer-Rolle und redet ihm ins Gewissen: ‚Er hat recht, du bist der Bruder, du musst doch wissen, wo deine Schwester ist.’ Die beiden finden sie schließlich im Einkaufszentrum, und der Bruder versucht, seine Schwester zum Nachhausekommen zu überreden. Die wahre Diskussion spielt sich aber zwischen ihm und seinem Kumpel ab, der währenddessen unablässig sein Pflichtgefühl in Frage stellt.“

„Ehre ist offenbar ein Begriff, der immer im Raum steht und eine wichtige Rolle spielt, ohne für die Jugendlichen greifbar zu sein.“ (Can Alpbek)

Rollenspiele mit ernstem Hintergrund

„In drei von den Rollenspielen gibt es kleine Rollen, die für die Schüler reserviert sind“, sagt Can Alpbek. „Zwei davon sind weibliche Rollen, die wir aber ebenfalls an Jungs vergeben. Der Gedanke dahinter ist, dass wir so das Empathiegefühl wecken wollen. Wenn wir anschließend fragen, wie es für den Jungen war, mal das Mädchen gespielt zu haben, ist etwas Interessantes zu beobachten. Oft sind selbst die, die vorher noch gesagt haben: ‚Klar muss die nach Hause, wenn der Bruder das sagt, ist doch normal!’ die, die hinterher sagen: ‚Ich fand’s scheiße. Ich wurde vor allen bloßgestellt.’ Dazu kommt: Wenn der Junge als Mädchen dasteht und alle zu kichern anfangen, ist das für ihn ebenfalls eine Art von Bloßstellung. Da können sie sich plötzlich gut in die Rolle hineinversetzen und fangen an, darüber nachzudenken, was mit einem passiert, wenn man so behandelt wird.“

„Für die Jugendlichen ist es zunächst einfacher, mit Ihresgleichen über diese Themen zu sprechen“, sagt Yilmaz Atmaca. „Das liegt einerseits am Alter, andererseits daran, dass die Heroes selbst aus einem kulturellen Milieu kommen, in dem sie die Lebensrealitäten der Jugendlichen kennen. Wichtig ist auch, dass eben kein Unterrichtscharakter entsteht. Sie sollen nicht das Gefühl haben, wir wollten ihnen etwas beibringen, sondern eher, dass wir uns mit ihnen unterhalten wollen. Sie sollen sehen, dass es auch Jungs gibt, die kulturell und sozial aus den gleichen Verhältnissen kommen wie sie, die aber Alternativen leben und andere Sichtweisen haben als die traditionellen. Dabei muss man sich klarmachen, dass das alles Jugendliche sind, die sich untereinander schon jahrelang kennen und die auch über die Schullaufbahn hinaus auf Jahre miteinander zu tun haben werden. Die achten also sehr darauf, was es für einen Effekt haben kann, was sie in der Klasse sagen. Denn sie haben unter Umständen eine bestimmte Stellung zu verlieren und wollen nicht als der Verdeutschte dastehen, der alles locker sieht.“

Martina Krägeloh (Mitte) und ihr Team

„Manche Jungen haben so viel Angst, als schwach angesehen zu werden, dass sie sich extra kämpferisch geben anstatt locker drüber zu stehen“, sagt Asmen Ilhan, der im Laufe des Tages auch schon als Gruppenleiter und Diskussionsführer in Erscheinung getreten ist. „Da muss man sich dann immer wieder gegenseitig bestätigen, dass man ein Mann ist. Wenn wir bei unseren Workshops fragen, wie ein Mann und wie eine Frau zu sein hat, kommen dementsprechend Klischees als Antwort: Ein Mann sollte in erster Linie stark sein, autoritär auftreten. Wenn man dann tiefer geht und fragt, ob es denn nicht genauso männlich ist, selbständig zu sein, seinen Weg zu gehen und auf eigenen Beinen zu stehen, stimmen sie auch zu. Das sind nur nicht die ersten Dinge, die ihnen einfallen. Umgekehrt genauso. Bei den Jungs heißt es: Meine Frau sollte schön sein, und sie sollte anständig sein, außerdem soll sie einen guten Charakter haben, nicht nerven oder herumzicken und gut kochen können. In diesen Fragen sind sich die Jungen und die Mädchen relativ schnell einig.“

„Traurigerweise gibt es immer wieder Fälle, in denen die Mädchen explizit sagen, dass sie sich ihrem Mann unterordnen, sich Vorschriften machen lassen wollen“, sagt Koray, ein weiterer Hero. „Das sind dann Mädchen, die versuchen, die bestehenden Strukturen zu nutzen, um sich zu profilieren, um selbst aufzusteigen oder sich anderen Frauen gegenüber zu bewähren. Die denken dann, es käme gut an, wenn man auf der untergeordneten Stellung der Frau beharrt. Auch das sind Klischees, die wir hinterfragen und bei denen schnell eine Unsicherheit deutlich wird. Heute war wieder sehr auffällig, dass die Mädchen viel konservativer waren als die Jungs und teilweise krampfhaft daran festgehalten haben, was die Tradition vorschreibt. Das kommt sehr oft vor, wobei man natürlich dazu sagen muss, dass speziell die Mädchen in dieser Community unter großem Druck stehen.“

„Wir erleben auch, dass gerade Lehrkräfte niemanden verletzen wollen oder sich nicht trauen zu sagen, dass bestimmte Aspekte dieser Kultur zu kritisieren sind. Wir vertreten hier klare Meinungen und haben auch entsprechende Positionen, zum Beispiel, dass Menschenrechte nicht kulturell verhandelbar sind.“ (Martina Krägeloh)

Gefangen im Werteknast

„Man darf aber nicht vergessen, dass das auch für Jungs gilt“, sagt Can Alpbek. „Natürlich ist es nicht so schlimm wie bei den Mädchen, von denen erwartet wird, dass sie direkt nach der Schule wieder nach Hause kommen und da am besten auch gleich bleiben, bis sie heiraten. Aber wir bekommen auch oft mit, dass viele Rollenbilder die Jungen überfordern oder ihrem eigenen Willen zuwiderlaufen. Dass sie aber nicht das Ventil finden, sich in einem Umfeld dagegen zu wehren, in dem es nicht darum geht, was gut für eine Person ist, sondern gut für den Ruf. Hier ist ein Punkt, bei dem wir ebenfalls ansetzen: Warum gibt man so viel auf die Meinung anderer? Die Einsicht, dass die Meinung anderer eigentlich deren Problem sein sollte, ist zwar da, aber auf der anderen Seite stehen die Strukturen, aus denen das Ausbrechen schwerfällt. Man kann sich nicht einfach nach der Situation verhalten, sondern muss bestimmten Vorgaben folgen, die einem keinen Spielraum lassen. Das ist durchaus eine Art Werteknast.“

Asmen Ilhan sagt, dass er sich noch heute manchmal wie bei einem „Privat-Workshop“ fühlt, wenn er solche Themen in seiner eigenen Familie und seinem eigenen Freundeskreis anspricht. Und dass es vielfach Erstaunen hervorruft, wenn er seine Tätigkeit als Fluchthelfer aus diesem Werteknast beschreibt oder die Doppelmoral der Rollenverteilung zur Sprache bringt. „In meiner Community hat man als Junge traditionell ganz andere Privilegien“, sagt er. „Auch das ist etwas, das wir als Heroes zeigen wollen: Dass da Jungen sind, die ihre Privilegien in gewisser Weise aufgeben und sich um ein Miteinander der Geschlechter bemühen. Dieser Effekt hinterlässt in den Klassen oft einen verblüfften, aber positiven Eindruck. Wobei man es natürlich auch als Privileg sehen kann, freiheitlich zu leben.“ Yilmaz Atcama führt aus: „Viele Jugendliche sind an dem Punkt, an dem sie sich fragen: Wenn ich diese oder jene Äußerung gutheiße, wie stehe ich dann meiner Gruppe gegenüber da? Bin ich weiterhin loyal oder nicht? Loyalität spielt in diesem Alter schließlich eine sehr große Rolle. Wir sagen: ‚Wir verlangen nicht von dir, dass du deiner Gruppe gegenüber einen Krieg erklärst. Aber denk mal drüber nach: Auch wir haben alle eine Familie und sind gerne in unserer Gruppe, sprechen gerne unsere Sprache, aber trotzdem gibt es Sachen, die wir nicht akzeptieren. Dafür schauen wir: Was macht mich glücklich? Was sind meine Gefühle?’ Darum geht es letztlich: diese Gefühle wahrzunehmen, sich selbst wahrzunehmen, für sich selbst zu sprechen, Eigenverantwortung wahrzunehmen.“

Das ist unter Umständen leichter gesagt als getan. Eldem Turan, eine weitere Gruppenleiterin bei den Heroes, sagt, dass es ironischerweise die unmittelbare Nähe zur Mehrheitsgesellschaft sein kann, die die Frage nach der Identität erschwere, die auf dem Weg zur Eigenverantwortung so wichtig ist. „Es ist nicht so, dass ‚deutsch’ als schlecht empfunden wird“, sagt sie. „Hinter dem Vergleich mit dem Deutschen steckt die Angst, dass man versagt hat, seine eigene Kultur aufrechtzuerhalten und deswegen in diesen anderen Lifestyle reingerutscht ist. Wenn jemand in der Mehrheitsgesellschaft angekommen ist, wird das oft als Ausstieg wahrgenommen, als Zeichen, dass dem Betreffenden die Werte und die Gemeinschaft nicht mehr wichtig sind. Oder es wird umgekehrt als Negativzeugnis angesehen, dass da einer die Seiten wechseln muss, weil er von ‚unseren Leuten’ nicht akzeptiert wird. Beide Welten sind sich immer noch fremd und wir fragen im Grunde nur: Warum habt ihr solche Angst vor der anderen Seite? Wenn man sich für mehr Individualismus ausspricht, heißt das nicht, dass man die Kultur gewechselt hat. Wir versuchen zu vermitteln: Selbst über die ungeschriebenen Gesetze kann man reden.“

Ungeschriebene Gesetze

Jedenfalls meistens. Die Grenzen, an die auch Turan gelegentlich stößt, lassen sich gesamtgesellschaftlich finden. „Ich will es so ausdrücken: Ich weiß auch, wo ich zwei und wo ich zehn Sätze zu meinem Job sage“, sagt sie. „Das geschieht oft auch unbewusst. Auch in der Mehrheitsgesellschaft ist es schließlich nicht immer einfach zu sagen: Ich bin in einem Feminismus-Projekt und setze mich für die Gleichberechtigung ein. Wenn ich an jeder Stelle breittreten würde, wofür oder wogegen ich mich hier einsetze, würde es sicher nicht immer friedlich zugehen. Und deswegen finde ich den Namen Heroes auch sehr berechtigt, denn es erfordert schon Mut, bestimmte Themen anzusprechen. Gleichberechtigung finden alle toll, aber wenn man über seine eigene erlebte Ungleichberechtigung spricht, kommt das schon nicht mehr so gut an.“

Deswegen ist die Offenheit der Diskussion in den Schulklassen, aber auch die Haltung der Heroes so wichtig. Mit Blick auf deren jugendliche Ansprechpartner sagt Martina Krägeloh, dass zwar zunächst anzuerkennen sei, wie jemand zu dem geworden ist, der er ist, und wie dieses Wertekonstrukt zustande gekommen ist. „Es ist aber auch niemandem damit geholfen, wenn man sich aus falsch verstandener Rücksicht oder Vorsicht nicht auch einmischt. Aussagen wie ‚Das ist halt in der Kultur so’ oder ‚Das war vor 50 Jahren hier auch so’ relativieren nichts, werden aber immer wieder so benutzt. Die Vorstellung muss sein, dass alle Menschen über alle Kulturen hinweg gemeinsam Menschenrechtsverletzungen benennen und kritisieren dürfen. Wir erleben nämlich auch, dass gerade Lehrkräfte niemanden verletzen wollen oder sich nicht trauen zu sagen, dass bestimmte Aspekte dieser Kultur zu kritisieren sind. Wir vertreten hier klare Meinungen und haben auch entsprechende Positionen, zum Beispiel, dass Menschenrechte nicht kulturell verhandelbar sind. Aber es ist eine Meinung, von der wir wissen, dass wir sie immer wieder zur Diskussion stellen müssen und dass dieser Diskurs nicht aufhören wird. Das ist ein nicht enden wollender Prozess und letzten Endes auch ein Zeichen einer freien Gesellschaft. Und während es kein Geheimnis ist, dass die Gesamtgesellschaft patriarchalisch strukturiert ist, gibt es auch eine unterschiedliche Dimension, die wir als Projekt benennen dürfen wollen, ohne von der einen oder anderen Seite instrumentalisiert zu werden.“

Genau das hat sich in der Vergangenheit schon als reelle Gefahr herausgestellt. Tatsächlich ist es erstaunlich, wie groß das Medienecho bereits ausgefallen ist, wenn man bedenkt, wie kleinteilig die Kampagne der Heroes eigentlich ist. Ihre große Stärke – nämlich gleichaltrigen Jugendlichen ein niederschwelliges Angebot zu machen, auf dem zunächst einmal offen diskutiert werden kann – scheint dabei zu einer etwas unscharfen Wahrnehmung einzuladen, innerhalb derer man eigene Gewichtungen und Urteile anbringen kann. „Wir müssen beispielsweise immer wieder betonen, dass wir kein Integrationsprojekt sind“, sagt Martina Krägeloh. „Denn dazu müsste man erst einmal klären, wer überhaupt wohinein integriert werden soll – und von wem. Mit dem Begriff tue ich mich schon deshalb schwer, weil für mich die Gesellschaft aus allen besteht, die da sind. Was wir hier machen, ist im Grunde Demokratie: Wir setzen uns mit Themen auseinander und diskutieren Werte. Das ist natürlich insofern integrativ, als dass wir uns als Teil der Gesellschaft engagieren. Genauso hat so ein Prozess sicherlich radikalisierungspräventive Wirkung, aber uns geht es nun mal um die Gleichberechtigung. Wobei uns hier auch schon vorgeworfen wurde, dass wir ein rassistisches Projekt seien und so wahrgenommen werden, als kritisierten wir nur diese eine Kultur.

„Die Einsicht, dass die Meinung anderer eigentlich deren Problem sein sollte, ist zwar da, aber auf der anderen Seite stehen die Strukturen, aus denen das Ausbrechen schwerfällt. Das ist durchaus eine Art Werteknast.“ (Can Alpbek)

Goldsterne für die Guten

Auch in der migrantischen Community wissen viele noch nicht genau, was sie von den Heroes zu halten haben – mal ganz abgesehen von den Vigilanten, die immer das Schild am Eingang entwenden. Can Alpbek zufolge rangieren die Reaktionen von Ablehnung und Belächeln auf der einen bis zu Lob und Unterstützung auf der anderen Seite. Einige befürchten, die Heroes würden mit ihrer Arbeit die Werte und Traditionen ihrer Kultur schlecht darstellen, was durch die offizielle Anerkennung quasi bewiesen werde. Das Bedürfnis, von Politikerseite Goldsterne an das Projekt zu verteilen, kann auf der anderen Seite den altbekannten bürgerlichen Reflex fördern, den Vorzeigemigranten sozusagen gegen den Rest auszuspielen, nach dem Motto: Das sind die Guten, nehmt euch mal ein Beispiel an denen. „Da gehen sehr schnell Schubladen auf“, weiß Martina Krägeloh. „Wir werden auch immer wieder mit Themen in Zusammenhang gebracht, bei denen sich schöne Schwarzweißbilder zeichnen ließen, indem wir etwa als rein muslimisches Projekt angesehen wurden, das sich für Gleichberechtigung einsetzt. Es stimmt zwar, dass der Islam in den Schulklassendiskussionen ein großes Thema ist, aber das macht unsere Jungs nicht zu Aushängeschildern. Viele leben ihren Islam, andere sehen sich als Atheisten. Die meisten Jugendlichen wollen lediglich zeigen: Wir haben mit vielen Werten zu kämpfen, es geht um Anschluss und Stärke. Sie wollen dabei nicht zeigen, dass sie so anders sind, sondern sich nur Gehör verschaffen, einfach weil sie Teil der Gesellschaft sind.“

Nesimi bringt es auf den Punkt: „Mich würde es eher freuen, wenn die Leute uns nicht gut finden, nachdem sie sich mit unseren Zielen auseinandergesetzt haben, als dass sie uns gut finden, ohne das getan zu haben, nur weil sie eine Headline brauchen.“ „Im Grunde geht es immer nur um Ängste“, sagt Eldem Turan, wenn sie die Arbeit der Heroes zusammenfassen soll. „Ängste, in eine Welt einzutreten oder eine andere zu verlassen. Etwas zu verlieren oder von etwas ausgeschlossen zu werden. Und uns geht es darum, diese Ängste zu nehmen. Ich würde mir wünschen, dass unsere Themen in der Gemeinschaft offener angenommen werden. Dass sie auch nicht nur mit der Unterschicht in Verbindung gebracht werden, sondern genauso mit der türkischstämmigen Elite. Auch dort muss sich noch herumsprechen, dass ich durchaus meine Kultur kritisieren kann, ohne dass ich deswegen eine Volksverräterin werde.“ Das geht auch Asmen Ilhan so. Nicht zuletzt, weil er tagtäglich erkennen kann, dass seine Arbeit einen Unterschied und viele Schüler empfänglich dafür macht, sich gedanklich von Traditionshörigkeit, Gruppenzwang und Werteknast freizumachen, ist er gerne ein Gruppenleiter. „Mir ist es wichtig, dass die migrantischen Jugendlichen von der Freiheit und den Möglichkeiten hier profitieren und sich das nicht selbst verwehren oder von ihrer Community verwehren lassen“, sagt er. „Außerdem finde ich, dass liberale und säkulare Werte wichtig sind, um ein gutes Zusammenleben zu gewährleisten, und das ist etwas, das sich auch schon oft genug gezeigt hat. Dazu muss das aber in den Köpfen vertreten werden – es reicht nicht aus, wenn das einfach nur auf dem Papier steht.“

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