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Graham Nash

„Sozialismus bedeutet, dass man seinen Müll wegräumt.“

Fotos
  • Anne-Lena Michel
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Berlin, 11.03.2016. Vor wenigen Tagen hat Graham Nash das endgültige Ende von Crosby, Still, Nash & Young verkündet und damit eine der letzten Woodstock-Legenden in den Ruhestand versetzt. Die Beziehung zu seinen alten Mitstreitern mag angespannt sein, Nashs Bedürfnis nach Liebe und Frieden ist aber noch vorhanden. Genau wie sein Humor. Der Musiker, selbst nebenbei als professioneller Fotograf tätig, spricht während der Fotosession davon, dass er sich lieber hinter der Kamera als davor bewegt. Die Bemerkung, dass er wesentlich fotogener sei als der Rest seiner Band, tröstet ihn nicht. „Ist ja auch nicht schwer“, sagt er und lächelt.

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Herr Nash, Ihr Bandkollege David Crosby sagte einmal, wenn man sich an die Sechzigerjahre erinnern könne, wäre man nicht wirklich dabei gewesen. Wie dabei waren Sie?

Oh, ich war sehr dabei! Wenn ich heute an diese Epoche denke, fühle ich mich immer noch innerlich gewärmt. Ich erinnere mich an einen hohen Grad von gesellschaftlicher und persönlicher Freiheit und an viel Sonnenschein. Die Sechziger waren eine aufregende Zeit für mich. Eine Zeit, in der mich die Menschen oft nach meiner Meinung gefragt haben, in der es viele Drogen und viele schöne Frauen gab.

Ihre Biografie hat Sie nicht von vorneherein zum Hippie auserkoren. Sie wuchsen in Salford auf, einer englischen Arbeiterstadt, die nicht umsonst das Lied „Dirty Old Town“ inspirierte. Das genaue Gegenteil von Südkalifornien.

Der Unterschied war eklatant. Es war, als ob ich eines kalten grauen Morgens aufgewacht wäre und plötzlich im Lichte eines warmen Sommertags stehen würde. Salford war nach dem Zweiten Weltkrieg kein schöner Ort zum Großwerden. Brot und Milch waren in meiner Jugend immer noch rationiert und nur über Lebensmittelkarten zu erhalten. Als 14-jähriger hatte man nichts zu tun. Wenn sich ein Ball finden ließ, den man ein wenig umher kicken konnte, war das das Höchste der Gefühle. Wissen Sie, was Skiffle ist?

Ja. Eine sehr urwüchsige, lokale Form von Rock’n’Roll, die Ende der Fünfzigerjahre unter anderem auch John Lennon und Paul McCartney begeisterte.

Genau. Das war eine sehr primitive Angelegenheit mit billigen Akustikgitarren und Zigarrenkistenbanjos. Der Held des Skiffle hieß Lonnie Donegan, und als er in unser Leben trat, veränderte sich alles. Plötzlich gab es etwas zu erleben. Plötzlich gab es Radio Luxemburg, das frühen amerikanischen Rock’n’Roll und Rhythm & Blues spielte, und das man auch bei uns empfangen konnte, wenn der Wind richtig stand. Mit einem Mal gab es Buddy Holly, Eddie Cochran, Elvis Presley und Gene Vincent zu hören. Das waren fantastische Platten, und alle schienen sie auf die ein oder andere Art von Amerika zu handeln. Mit meiner nordenglischen Realität hatte das nichts gemein, aber es brachte uns dazu, Erfolg haben zu wollen. Nicht bloß in Salford oder in Manchester oder in London, sondern letztendlich auch in Amerika. Als ich 1965 das erste Mal mit meiner Band The Hollies dort war, wusste ich, dass ich dieses Land liebte.

Haben Sie sich in England in irgendeiner Weise für Politik interessiert?

Eher nicht. Ich weiß noch, dass ich Anfang 1965 mit den Hollies ein Lied namens „Too Many People“ geschrieben habe, was wohl am ehesten als politisches Statement durchgeht. Darin ging es um die Bevölkerungsexplosion und darum, dass unser Planet sie auf Dauer nicht verkraften würde. Zusammen mit der globalen Erwärmung ist das ein Problem, das heute noch an Aktualität gewonnen hat, denn wenn erst einmal ganz Bangladesh unter Wasser steht, werden sich Flüchtlingsbewegungen und kriegerische Konflikte noch verschärfen.

„Salford war nach dem Zweiten Weltkrieg kein schöner Ort zum Großwerden.“

Sie gehörten damals in Großbritannien zur ersten Generation junger Männer, die keinen Wehrdienst mehr leisten mussten. Für Ihre amerikanischen Kollegen war das genau umgekehrt, denn der Vietnamkrieg stand vor der Tür.

Ich konnte mich in der Tat glücklich schätzen, nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Von David Crosby kenne ich haarsträubende Geschichten über die Versuche der jungen Leute, nicht eingezogen zu werden. Sie haben sich eine Menge Speed reingezogen und sind dann tagelang wachgeblieben, um im Musterungsbüro eine möglichst schlechte Figur zu machen.

War der Umzug nach Amerika für Sie eher eine Flucht oder ein Ankommen?

Beides. Ich ließ mein bisheriges Leben hinter mir und begann ein neues. Was damals galt, gilt jetzt immer noch: Ich plane mein Leben nicht, mein Leben stößt mir zu. Ich folge weiterhin dem, was mein Herz mir sagt. Das Herz weiß, was gut ist und was schlecht, das konnte ich immer schon spüren. Als ich das erste Mal nach Los Angeles kam, geschah das auf Einladung von Cass Elliott von The Mamas and the Papas. Ihr Manager wollte die Hollies unter Vertrag nehmen. Aber sobald ich aus dem Flughafengebäude trat, bin ich auf die erste Palme geklettert, die ich finden konnte, und habe meinen Bandkollegen zugerufen: „Ich geh nicht wieder zurück!“ Joni Mitchell lebte damals in Los Angeles, im Laurel Canyon, und ich bin gleich bei ihr eingezogen.

Englischen Fußball und richtiges Bier haben Sie nicht vermisst?

Nein, ich interessiere mich nicht besonders für Fußball, und ein Biertrinker bin ich auch nicht. Im Vergleich zu Kalifornien kam mir England vor wie ein Schwarzweißfilm.

Warum lag gerade damals eine Veränderung in der Luft?

Ich glaube, damals fingen die Leute an zu begreifen, dass sie eine gewisse Macht hatten. Wenn Walter Cronkite einem, während man zu Abend aß, in den Nachrichten berichtete, wie viele Amerikaner an diesem Tag in Vietnam gestorben waren, wurde man darüber wütend. Die Leute haben angefangen, ihren Kongressabgeordneten und Senatoren Briefe zu schreiben, dass sie diesen Krieg beendigen sollten. Während der Nixon-Ära in Amerika zu leben, war unglaublich aufregend.

Nixon warb bei seinem Amtsantritt damit, dass er den Krieg beenden würde. Stattdessen hat er ihn eskalieren lassen, was ihn zu einem Lieblingsfeind der Gegenkultur machte.

Und wie! Man hatte das Gefühl, ein großes Aufatmen ging durch das Land, als Nixon schließlich abtrat. Ich weiß noch, dass wir mit Crosby, Stills, Nash & Young im Roosevelt Stadium in New Jersey spielten, als es passierte. Er erklärte seinen Rücktritt, als wir gerade Umbaupause hatten. Als wir wieder auf die Bühne gingen, rief ich dem Publikum zu: „Er ist weg!“ Alle 100.000 Menschen verstanden auf der Stelle, was ich meinte.

Die Abneigung der Hippies vor allem gegen republikanische Politiker beruhte auf Gegenseitigkeit. Der damalige Gouverneur von Kalifornien, Ronald Reagan, sagte zum Thema „Make Love Not War“: „Mir scheint, diese Leute sind zu beidem nicht zu gebrauchen.“

Ronald Reagan war jemand, den schon damals der Verstand im Stich ließ. Der Mann litt bereits als Gouverneur unter Senilität, und als Präsident erst recht. Er war eine Marionette. Es gibt ein Buch von Dan E. Moldea namens „Dark Victory – Ronald Reagan, MCA and the Mob“. In diesem Buch wird deutlich, dass das Establishment sich Ronald Reagan genau deswegen ausgesucht hat, weil man ihn in jeder Hinsicht kontrollieren konnte. Er wurde Präsident, weil sie sich darauf verlassen konnten, dass er immer im Sinne der großen Unternehmen handeln würde. Weil ich inzwischen gesehen habe, welche Macht damit einhergeht, ist das nur ein weiterer Grund für mich, im kommenden Wahlkampf Bernie Sanders zu unterstützen. Er ist jemand, der junge Leute wieder in den politischen Prozess einbinden möchte, und viele von ihnen wissen noch nicht, wie wichtig das ist. Die Politik bestimmt unser Leben, aber die Jugendlichen von heute sind zu abgelenkt, um das zu bemerken. Brot und Spiele – mehr ist es nicht. Leg dich hin, halt die Schnauze und lass dich ablenken, damit du nicht merkst, wie sie dich ausrauben.

„Die Politik bestimmt unser Leben, aber die Jugendlichen von heute sind zu abgelenkt, um das zu bemerken.“

War Woodstock wirklich ein Aufbegehren gegen diese Haltung oder wird das im Nachhinein nur gerne so dargestellt?

Beides. Woodstock war das Ende und der Beginn von etwas. Es war das Ende einer Jugendbewegung, die von Jugendlichen in Garagenbands gestaltet wurde. Und es war der Beginn des Moments, an dem die Industrie erkannte, dass es einen Weg geben konnte, einer halben Million Menschen, die auf einem Feld sitzen, Turnschuhe und Cola zu verkaufen.

Kritiker sagen, die Jugendkultur damals war narzisstisch und realitätsfremd. Stimmt das aus Ihrer heutigen Sicht?

Ja. Ich habe damals nicht groß über Politik nachgedacht. Ich hatte nur Musik, Drogen und Frauen in Kopf.

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