Gay Talese
„Ich bin als Journalist weder Diener noch Mitglied des Establishments.“
Zur Person
Gay Talese wurde am 07.02.1932 als Sohn einer aus Italien in die USA eingewanderten Familie in Ocean City, New Jersey geboren. Sein Vater arbeitete als Schneider; Gay Talese trug schon als Junge maßgeschneiderte Anzüge und zelebrierte bereits früh seine Andersartigkeit. Schon auf der High School arbeitete er als Reporter für die Schulzeitung, Anfang der 50er zog er nach New York und heuerte als Sportreporter und Reportage-Journalist bei der New York Times an. Ab den 60ern konzentrierte sich Talese auf lange Essays, die er u.a. im Time Magazine und dem Esquire veröffentlichte. Seine besten Stücke aus dieser Zeit sind heute legendär, allen voran „Frank Sinatra ist erkältet“ (1966), für viele die beste journalisitsche Arbeit der US-Geschichte und bestes Beispiel für den „New Journalism“. Gay Talese schreibt nach wie vor, veröffentlicht regelmäßig Bücher und lebt mit seiner Frau, der Verlegerin Nan Talese, in New York.
20.03.2009, Köln. Ein formvollendeter Gentleman betritt das Hotel im Wasserturm, wo sich während der Lit.Cologne gleich ein Dutzend Literaten von Weltformat in der Lobby begegnen: Gay Talese legt elegant Mantel und Hut ab und fragt forsch, ob man vorbereitet sei und sein Werk kenne. Nach dem Gespräch wechseln die Rollen – und der Erfinder des New Journalism möchte seinerseits wissen, ob und wie man als noch recht junger Fotograf und Journalist über die Runden kommt.
Mr. Talese, Journalisten sind ja stets auf der Suche nach Impulsen. Können Sie sich an den merkwürdigsten Moment erinnern, der Ihnen die Idee zu einer Geschichte bescherte?
Gay Talese: Das war sicherlich ein Samstagnachmittag in New York im Jahre 1999. Ich schrieb gerade an meinem Buch „A Writer’s Life“, kam aber nicht voran. Also entschloss ich mich dazu, mir den Samstag frei zu nehmen, den ganzen Tag lang faul auf dem Sofa zu liegen und fernzusehen. Ich schaltete wahllos zwei, drei Stunden hin und her, bis ich durch Zufall bei einem Fußballspiel hängen blieb. Frauenfußball. Das Endspiel der Weltmeisterschaft zwischen China und den USA hatte gerade begonnen. Ich legte die Fernbedienung zur Seite.
Interessieren Sie sich als Amerikaner tatsächlich für Fußball?
Kein bisschen, aber für China. Jeder sollte Interesse für dieses Land aufbringen. Mir kamen schon auf den ersten Blick die chinesischen Spielerinnen sehr klein vor, vor allem im Vergleich zu der riesigen Arena, dem Rose Bowl in Pasadena, Kalifornien. 90.000 Zuschauer und elf kleine Chinesinnen: Diese Situation erweckte meine Aufmerksamkeit. Das Spiel hingegen kaum. Ich kenne die Regeln nicht, und zwei Stunden lang fiel nicht ein einziges Tor. Doch dann kam das Elfmeterschießen. Alle Spielerinnen verwandelten ihren Schuss, nur eine kleine chinesische Frau namens Liu Ying nicht: Die amerikanische Torfrau parierte. Liu Ying ließ sich daraufhin auf das Spielfeld fallen und hielt sich die Hände vor ihr Gesicht, während die US-Frauen auf dem Rasen herumtollten – eine große Tragik. Ich wollte daraufhin mehr wissen über diese Frau, doch die Fernsehstation brach Sekunden nach dem Fehlschuss die Übertragung ab, weil wegen der Verlängerung die anderen Sendungen schon warteten.