Frank Witzel

Frank Witzel

„Man braucht einen Irrtum, um sich auf den Weg zu machen.“

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  • Andreas Hornoff
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Zur Person

12.08.2016, Luhmühlen. „Dies ist das Finale einer zehnmonatigen Reise“, sagt Frank Witzel bei seiner Lesung im Grünen Salon auf dem Festival A Summer’s Tale mitten in der Lüneburger Heide. Vergangenen Herbst wurde der Schriftsteller für seinen Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Seither befindet er sich unablässig auf Reisen, um über Literatur, Ästhetik und den Zeitgeist der alten BRD zu sprechen, die er in seinem Buch aus der Sicht eines verhaltensauffälligen 13-Jährigen schildert. Im Backstage des Festivals finden wir Platz in einer kleinen schwarzen Box neben den Garderoben der Musiker. Zwei Wände weiter spielt sich jemand an der Trompete warm.

Herr Witzel, in all Ihren Romanen und erst recht in „BRD Noir“, einem 169 Seiten langen Gespräch zwischen Ihnen und dem Historiker und Kulturwissenschaftler Philipp Felsch, geht es um das Unbehagen. Darum, dass hinter scheinbar intakten Kulissen das Dunkle lauert. Wir sind gerade von Blümchen, Kinderspielplätzen, freundlicher Musik und reiner Bio-Gastronomie umgeben. Wo sehen Sie hier den heimlichen Abgrund?

Ich bin eigentlich ein sehr harmoniebedürftiger Mensch. Daher laufe ich nicht durch die Gegend und suche überall nach dem doppelten Boden. Aber aus meiner Lebenserfahrung erahne ich ihn dann doch meistens irgendwo. Der Komponist John Cage, den ich sehr schätze, hat mal sinngemäß gesagt: „Je mehr man verändert, umso mehr macht man kaputt.“ Jede Entwicklung – die ich deswegen nicht ablehne – nimmt auch etwas, was durchaus in Ordnung war. Das Problem entsteht für mich an dem Punkt, an dem man so tut, als hätte man ein komplettes Glück gefunden. Schließt man das Negative kategorisch aus, kriecht es überall durch die Ritzen wieder hinein. Deshalb muss man es zwar nicht überall gleich mitplakatieren, aber immer mitdenken.

Was bedeutet das für die Literatur und Ihre Wahrnehmung der Dinge?

Nehmen wir dieses Festival als Kulisse. Ein TV-Krimi würde das Idyll filmen und dann mit einem Schlag zu einem Kind schwenken, das am Baum hängt, um einen möglichst schockierenden Kontrast zu erzeugen. Das interessiert mich nicht. Obwohl ich häufig drastisch erzähle, geht es mir um die subtilen Augenblicke. Wenn hier etwa zwei Personen im Publikum nebeneinander das gleiche Konzert sehen und der eine weint vor Glück, während der andere zu Tode betrübt daran denkt, wie toll solche Momente waren, als er sie noch gemeinsam mit seiner Freundin erleben konnte. Es ist wie diese Szene aus David Lynchs Film „Inland Empire“, in der eine Frau neben einigen Junkies auf der Straße stirbt, die das, in ihre eigene Welt vertieft, nicht einmal mitkriegen.

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