FIAN

April 2018 / Seite 3 von 3

Wie zufrieden sind Sie mit der deutschen Regierung, was deren Hellsichtigkeit und ihre Entscheidungen angeht?

Mimkes: Wir müssen schon anerkennen, dass wir in einem Teil der Welt leben, in dem die Menschenrechte als Basis der Gesellschaft nicht infrage gestellt werden und wo die Verwirklichung der Menschenrechte – bei aller Kritik – schon sehr weit fortgeschritten ist. Mit einem Blick zurück sieht man, dass wir durch historische Entwicklungen und soziale Kämpfe viel erreicht haben. Schon anders sieht es aus, wenn wir das Wirken von Deutschland in der Welt betrachten. Insofern sehen wir uns als Oppositionsgruppe, die erst einmal das Negative sieht – weil wir es verbessern wollen. Unsere Aufgabe ist es weniger, Fortschritte zu dokumentieren, sondern den Finger in die Wunde zu legen. Dorthin, wo es Probleme gibt.

Stichwort Probleme: Vor wenigen Monaten entbrannte die Diskussion um die Tafeln in Deutschland. Man wurde daran erinnert, dass viele Menschen von prekärer Armut und sogar Hunger bedroht sind. Wie kann das sein?

Mimkes: Wenn wir 900 Tafeln in Deutschland haben und 1,5 Millionen Menschen, die darauf angewiesen sind, zeigt das zunächst einmal, dass es auch hierzulande Ernährungsunsicherheit gibt. Die Sozialleistungen insbesondere für Kinder aus einkommensschwachen Familien reichen aus unserer Sicht nicht für eine ausgewogene Ernährung. Hier werden pro Tag und Kind aktuell fünf Euro veranschlagt, und laut einer Vielzahl von Studien kann eine gesunde Ernährung damit nicht gewährleistet werden. Form der Tafeln zurück an die Zivilgesellschaft. Dabei hat der Staat die Pflicht, das Recht auf Nahrung zu garantieren. Er kann nicht einfach sagen, dass sich andere darum kümmern – speziell bei Kindern und Jugendlichen sollte klar sein, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht selber bestreiten können. Wenn ein Fünftel aller Kinder unter der Armutsgrenze aufwächst, ist das natürlich eine erschreckende Zahl. Das darf nicht sein, und schon gar nicht in einem reichen Land wie Deutschland.
Herre: Wobei man gerade in der globalisierten Welt nicht den Blick davon nehmen darf, dass das gute Leben, das hier ein großer Teil der Bevölkerung genießt, auch auf Kosten der Länder im globalen Süden stattfindet. Allein im Agrarsektor sind ausbeuterische Arbeitsbedingungen oft die Grundlage dafür, dass wir hier billige Lebensmittel konsumieren können. Dieses Delegieren, das sich beim Thema der Tafeln zeigt, sehen wir auch bei den Themen Menschenrechte und globaler Konsum. Hier wird sehr stark darauf gesetzt, dass über Unbedenklichkeitslabel und den Kauf von Fair-Trade-Produkten der einzelne Konsument auf einmal derjenige sein soll, der sicherstellt, dass die Menschenrechte weltweit eingehalten werden sollen. Das halten wir für einen fatalen Ansatz und für ein großes Problem der deutschen Politik. Hier wird immer stärker auf freiwillige Mechanismen gesetzt, die es zum Großteil dem Konsumenten überlassen, so einzukaufen, dass Menschenrechte eingehalten werden. Das geht am Kern menschenrechtlicher Pflichten vorbei.

„Menschenrechte sind nie in Stein gemeißelt, sondern müssen interpretiert und weiterentwickelt werden.“ Philipp Mimkes

Ist unsere Regierung überfordert vom Tempo der Globalisierung?

Herre: Das wäre in meinen Augen eine sehr positive Lesart. Ich glaube nicht, dass sie überfordert ist. Wir sehen bei unserer Arbeit oft einen Unwillen, Menschenrechten eine klare Priorität einzuräumen. Ein Beispiel, bei dem ich gänzlich unzufrieden mit der Bundesregierung bin: Wir setzen uns seit vielen Jahren – auch im konstruktiven Dialog mit der Regierung – dafür ein, dass sie das Zusatzprotokoll zum UN-Menschenrechtspakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ratifiziert. Da geht es in der Grundlogik darum, eine Möglichkeit zu eröffnen, um bei Menschenrechtsverletzungen auf Basis des Paktes zu klagen. Die Bundesregierung weigert sich bis heute, dieses Zusatzprotokoll zu ratifizieren und versperrt damit wissentlich den Weg, rechtliche Möglichkeiten des Menschenrechtsschutzes zu verbessern.

Wie kann man sich bei FIAN vor diesem Hintergrund Erfolge vorstellen?

Herre: Da gibt es unterschiedliche Ebenen. Ich denke, dass es allein schon ein Erfolg ist, wenn sich die Betroffenen angemessen artikulieren können. Es ist bereits eine Stärkung, wenn wir es schaffen, ihnen diesen Raum zu geben – sei es gegenüber ihrer eigenen Regierung, sei es gegenüber der EU. Wir haben beispielsweise Betroffene von Vertreibungen zur europäischen Kommission begleitet, sodass sie selber berichten konnten, was ihnen zugestoßen ist, und selbst ihre Forderungen an die EU stellen konnten. Auch die Unterstützung der Selbstorganisation ist ein Erfolg: In Kambodscha gibt es mittlerweile einen regelmäßigen Austausch zwischen den von Zuckerrohranbau betroffenen Gemeinden, die sich so strategisch überlegen, wie sie weiter gegen die Plantagenbesitzer und Menschenrechtsverletzungen vorgehen können und was ihre nächsten Schritte sind. Und einige – wenn auch zu wenige – haben dadurch ihr Land zurückbekommen.
Mimkes: Dann gibt es die abstrakteren Erfolge. Dass die von uns dokumentierten Probleme zum Beispiel in UN-Berichten aufgeführt werden oder in den Empfehlungen des UN-Sozialausschusses, der unsere Arbeit schon häufig aufgegriffen hat. Natürlich schickt die UNO kein Militär nach Deutschland, wenn die Bundesregierung die Empfehlungen nicht umsetzt, aber für deren Legitimität ist es schon ganz wichtig, wie sie bei den internationalen Überprüfungsgremien wahrgenommen wird. Wie äußert sich der Menschenrechtsrat zur Situation in Deutschland? Wie äußert sich der Frauenrechtsausschuss, der Sozialausschuss? Unsere Berichte werden sehr wohl wahrgenommen und aufgegriffen. Ob zu 100% zu unserer Zufriedenheit, sei dahingestellt, aber sie werden sicher nicht ignoriert. Das sind konkrete, etwas indirekte Erfolge, bei denen wir in das politische Rad eingreifen. Und nicht zuletzt kann man auch stolz darauf sein, so einen Laden wie FIAN über 30 Jahre am Laufen zu halten. Man muss ja auch erst einmal Leute finden, die bereit sind, einen Teil ihres Lebens zu investieren, und mit denen es gelingt, über viele Jahre die politische Diskussion zu beeinflussen. Wir überschätzen uns nicht, aber sicherlich unterschätzen wir uns auch nicht.

Zur Person

FIAN, oder FIAN International, das FoodFirst Informationsund Aktions-Netzwerk, wurde 1986 gegründet und setzt sich als Menschenrechtsorganisation weltweit für das Recht auf Nahrung ein. Die Organisation hat Beraterstatus bei den Vereinten Nationen und eigene Sektionen in rund 20 Ländern. FIAN Deutschland fordert insbesondere die Verantwortung deutscher Politik und deutscher Unternehmen für das weltweite Menschenrecht auf Nahrung ein. Neben den 1.300 Mitgliedern gibt es viele weitere Aktive, die sich an Eilaktionen beteiligen, Vorträge halten, beraten, übersetzen, spenden oder FIAN auf andere Weise ehrenamtlich unterstützen. Weitere Infos unter www.fian.de

Teilen Sie dieses Interview:

Seite 3 von 3