Gute Nachrichten

Die #Offenen Türen von München

Bild: Brennpunkt / ARD

Der Sprengstoffanschlag auf ein Musikfestival in Ansbach sowie die Macheten-Attacke in Reutlingen vom gestrigen Abend überschatten schon jetzt die noch von niemandem verdauten Ereignisse des Freitagabends in München. Dennoch - oder gerade deswegen - möchte ich das Gute im abgrundtief Schlechten der Ereignisse von München an dieser Stelle noch einmal Revue passieren lassen.

Genau wie der gestrige Anschlag in Ansbach sorgte auch der Abend des vergangenen Freitags, an dem neun Menschen in München auf dem Gelände des Olympia-Einkaufszentrums ihr Leben ließen, dafür, das Vertrauen in die Menschheit nur immer weiter zu erschüttern. Zugleich entstand während des furchtbaren Abends, als die Polizei noch davon ausging, es mit mehreren Tätern zu tun zu haben, die jederzeit erneut an anderer Stelle zuschlagen könnten, eine spontane Aktion des Miteinanders, die allein auf Vertrauen basierte. Da sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel lahm lagen und die Straßen teilweise unpassierbar waren, die dringende Aufforderung der Sicherheitskräfte aber lautete, sich in geschlossene Räume zurückzuziehen, boten sich Menschen mittels der sozialen Netzwerke unter dem Hashtag #offenetür oder #opendoor gegenseitig Unterschlupf an. Zwar hielt sich jeder an den sinnvollen Rat, die jeweils genaue Adresse selbstverständlich nur mittels persönlicher Nachricht zu übermitteln, doch hätte auch hier das Misstrauen über das Vertrauen siegen können - wer garantiert einem schließlich, ob derjenige, der Unterschlupf erbittet, nicht selber ein Terrorist oder schlicht und einfach nur ein simpler Einbrecher ist, der seine Chance auf schnelle Beute wittert?

Das Ergebnis des Abends, soweit es sich wenige Tage danach beurteilen lässt, lautet jedoch: Die spontane Solidarität im Auge der Panik, die Bereitschaft von Menschen, sich gegenseitig zu vertrauen, sie hat sich ausgezahlt. Keinerlei Fälle wurden bekannt, in denen die offene Tür schamlos ausgenutzt wurde. Im Gegenteil sind an diesem Abend neue potentielle Freundschaften entstanden, wie der Bericht des Schriftstellers und Drehbuchautors Murmel Clausen zeigt, der am Wochenende dankenswerterweise auf eine Rundpost meinerseits reagierte, in der ich nach Erfahrungsberichten mit den offenen Türen von München fragte. Clausen war an jenem Abend mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter unterwegs und fand Unterschlupf in der Bar Pacific Times. "Die Panik brach in einer Woge vom Isartor durch die Baaderstraße", schreibt er, "Autos rauschten vorbei, es wurde 'Alle rein! Alle rein! Schüsse am Isartor!' gebrüllt. Die Jungs vom Service handelten blitzschnell. Sie schlossen die Tür ab, löschten alle Lichter und forderten uns auf, in Deckung zu gehen. Also standen wir auf, nahmen die Tochter auf den Arm und gingen in die etwa drei Meter lange Garderobe, die wie ein Blinddarm neben unserem Tisch lag." Von dort aus zog sich die Familie samt anderer Gäste in den Keller zurück, vor allem angesichts der "schrecklichen Bilder der Parisattentäter vor dem inneren Auge", die im November 2015 "in die Cafés gestürmt waren und wahllos auf die Gäste gefeuert hatten". Die Gastronomen halfen dabei, die kleine Tochter mittels Schokoladenkuchen abzulenken, während "über den Häusern Polizeihubschrauber kreisten". Clausen und seine Frau, lediglich einen Katzensprung entfernt wohnhaft, boten den anderen beiden in den Keller geflüchteten Gästen an, die Nacht bei ihnen zu verbringen. "Ohne Hashtag, einfach so", schreibt Clausen, dessen kleine Tochter den Fremden freiwillig ihr Zimmer bereitstellte.

Vorwürfe macht Clausen ebenso wie die Münchener Polizei jenen Menschen, welche die Panik an einem solch schrecklichen Tage auch noch anfeuern, indem sie Falschmeldungen verbreiten oder die Phantomschüsse möglicherweise sogar selber produzieren. So wie höchstwahrscheinlich einige Personen in der Nähe des Redaktionsgebäudes der Abendzeitung, deren Chefredakteur Michael Schilling noch nach Mitternacht auf Twitter von drei Schüssen berichtete, die ebenfalls von Anwohnern gehört worden sind. Die mit großem Aufgebot anrückende Polizei konnte allerdings an dieser Stelle wie auch an vielen anderen angeblichen Schauplätzen weiterer Schüsse in der Stadt nichts finden.

Wie gestern Abend bekannt wurde, hat die Polizei in der Zwischenzeit einen Freund des Täters festgenommen, der von dem geplanten Mehrfachmord (streng genommen ist eine lange im Voraus geplante Aktion schließlich kein "Amoklauf", sondern ein Attentat) gewusst haben könnte und ermittelt gegen ihn wegen Nichtanzeigens einer Straftat. Der 16-Jährige hatte sich freiwillig bei der Polizei gemeldet.

Die Tatsache, dass derzeit niemand mehr unschuldig und frohen Mutes durch den öffentlichen Raum spazieren kann, ist eine unsagbar schlechte Nachricht. Die Tatsache, dass sich im Ausnahmezustand von München in Windeseile Türen öffneten und sich das Vertrauen an dieser Stelle untereinander ausgezahlt hat, ist eine gute.

Ich wünsche Ihnen trotz allem einen guten Start in die Woche.
Ihr

Oliver Uschmann (Chefredakteur)