Ein Rückblick

A Summer’s Tale 2016 - Friendly people crossing

Auf Nintendo-Konsolen gibt es ein Spiel, in dem man als Mensch gemeinsam mit vielen sprechenden, unglaublich liebenswerten Tieren in einem putzigen Dorf wohnt. "Animal Crossing", frei übersetzt: "Den Weg kreuzende Tiere". Das Spiel läuft endlos in Echtzeit und hat kein klassisches Ziel. Man baut sein Haus aus, treibt Handel, angelt, verkauft im vom Waschbären Nook und seinen Neffen betriebenen Supermarkt aus den Bäumen geschütteltes Obst gegen "Sterni", die örtliche Währung. An der Börse handelt man mit Rüben. Vor allem aber kümmert man sich umeinander. Feiert gemeinsam Feste. Hält Kontakt zu jedem Tierchen. "Animal Crossing" wird viel und gerne von Erwachsenen gespielt, die sich das Gefühl dafür bewahrt haben, dass es eine Welt geben könnte, in der man mit kindlicher Liebe zu den Dingen und einem halb "magischen" Blick auf das Dasein durchs Dorf tingelt. Im Geschäft der für vier Tage errichteten Parallelwelten namens "Musikfestival" liegt diese Welt in der Lüneburger Heide und heißt: A Summer's Tale.

Auf der zweiten Folge dieses 2015 erstmals veranstalteten und dieses Jahr von GALORE präsentierten Festivals gaben mein Kollege Sascha Krüger und ich jeden Morgen um 10:30 Uhr zum Auftakt des Tages einen "Interview-Workshop" im Wissenszelt. Wo auf anderen Veranstaltungen um diese Zeit bei den meisten Menschen der verkaterte Tiefschlaf erst richtig beginnt, blickten wir jeden Morgen in achtzig hellwache Augen. Vierzig von vierzig Plätzen waren besetzt; die Gespräche über Gespräche und den Journalismus gingen jeden Tag noch eine Stunde lang draußen auf der Wiese weiter, während die nächsten bereits das Zelt nutzten. Gegenüber am Atelierhaus wurden derweil Körbe geflochten und hunderte von Kindern flitzten zwischen dem Spielbereich unter den riesigen Bäumen und der Schwarzlicht-Attraktion "Kleines Gruselgewusel" hin- und her.

Fasziniert und gefesselt wie die Kinder waren die Erwachsenen von einigen der Konzerte an diesen vier Tagen im Grünen. Der ebenso seelenvoll wie virtuos gespielte Soul von Michael Kiwanuka transportierte sie in die Sechziger. Zu der jeweils von Dub, Balkanbeat oder den Roaring Twenties inspirierten Tanzmusik der Stimmungskanonen Fat Freddy's Drop, Shantel & Bucovina Club Orkestar oder Caravan Palace hüpften sie wie die Duracellhäschen. Was Headliner Sigur Rós auf die hintereinander montierten LED-Wände projizierte, verwandelte die Hauptbühne mittels Tiefeneffekt in Räume voller belebter, endloser Weiten und verstärkte noch den Trance-Effekt ihrer Musik trotz oder gerade wegen des von Mittwoch bis Freitag anhaltenden nasskalten Niesel- und Regenwetters. Ein heimlicher Höhepunkt für viele war das nachmittägliche Konzert von Neil Finn auf der Zeltbühne. Leider im Streit mit seinem Bruder um die Namensrechte der Band, fiel aus seinem Mund an diesem Tag nicht einmal das Wort Crowded House. Ihre großen Songs wie "Fall At Your Feet", "Distant Sun" oder "Weather With You" spielte er allerdings; letzteres durchsetzt mit einem ekstatischen Theremin-Solo sowie einem Ausflug in "You Really Got Me" von den Kinks. "What a friendly place", kommentierte der Australier. In der Tat: Nicht mal den kleinen, mitten im Gelände liegenden naturgeschützten Heideabschnitten mit jungen Eichen und Lavendelbewuchs, wurde auch nur ein Halm gekrümmt.

Dass die Art der künstlichen Welt, die A Summer's Tale auch in Zukunft alljährlich in der Lüneburger Heide errichten wird, eine magische Wirkung haben muss, bewies am Freitagabend endgültig das Konzert von Noel Gallagher und seinen High Flying Birds. Ein Wunder geschah - der Griesgram sprach! Ansonsten häufig dafür bekannt, ein Konzert mit konzentriertem Blick auf die Fußspitzen oder halb zusammengekniffenen Augen zu spielen, unterhielt er sich bestens gelaunt mit Menschen aus der ersten Reihe, die ihm eine CD ihrer Band auf die Bühne geworfen hatten, gegründet "wegen ihm" und seinem Vorbild. Das gilt auch für einen Künstler im Programm, der mit seiner Lesung im "Grünen Salon" am Teich und seinem Konzert auf der Hauptbühne direkt doppelt zu tun hatte: Thees Uhlmann. Er beendete die Aufgabe Rockmusik am Donnerstagabend mit den euphorischen Worten: "Das ist das, was wir beruflich machen!" Als könne er's bis heute nicht ganz fassen. Bei seiner Lesung dankte er dem Veranstalter schelmisch, "endlich mal ein Festival für Spießer zu machen". Das Publikum applaudierte, fähig zur Selbstironie und gleichzeitig wissend, dass ein kinderfreundliches, kommunikatives, angstfreies, stilistisch vielseitiges und ausschließlich von Fair-Trade- und Bio-Gastronomie bestimmtes Dorf jedwede antispießige Utopie besser umsetzt als die lediglich musikalisch abweichende Kopie von Dauersuff, Gegröle und latenter Aggression zwischen Ballermann, Schützenfest und Fußballfankurve, die konventionelle Rockfestivals darstellen. Hier heißt es stattdessen ohne Ausnahme: "Friendly people crossing". Und der Noel, der hat tatsächlich die Augen auf. Wir sind froh, dabeigewesen zu sein.

Oliver Uschmann (Chefredakteur)