Irvine Welsh

Irvine Welsh

„Ein Schriftsteller, der nicht glaubt, was er schreibt, ist ein Lügner.“

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Zur Person

13.4.2015, Hamburg. Bevor er zu sprechen beginnt, fragt man sich unwillkürlich: Dieser auffällig unbeeindruckte Mann im Freizeitdress eines Frühpensionärs, der sanft wiegenden Schrittes die Hotellobby durchmisst, soll der Kopf hinter all den furios kranken Geschichten über Süchte und Sehnsüchte, Abstürze, Affekttäter, moralische Entgleisungen und das ganze Panoptikum menschlicher Abgründe sein? Doch dann macht Irvine Welsh den Mund auf, und alles ist gut. Wenn der Schriftsteller redet, hört man in den Worten das Rauschen schottischer Hinterhöfe, die Arroganz britischer Machos, Bierlachen im Rinnstein, aber auch den sittsamen Leiter eines örtlichen Debattierclubs.

Mr. Welsh, seit der Veröffentlichung Ihres Debütromans „Trainspotting“ gelten Sie als scharfzüngiger Chronist der Abgründe in Leben, Gesellschaft und Psyche Großbritanniens. Ihr neues Buch transportiert diese Beobachtungsschärfe nach Miami in die dortige Kunst- und Fitness-Szene. Selbst wenn man berücksichtigt, dass Ihre Analysen stets angriffslustig und selten freundlich sind, muss man dabei den Eindruck bekommen: Der „American Way of Life“ ist Ihnen noch verhasster als der britische.

Irvine Welsh: Da muss man differenzieren. Natürlich liegt es auf der Hand, dass jemand wie ich, mit meinem Beruf, zunächst von vielen Facetten des gewöhnlichen US-Alltags abgestoßen wird. Gleichzeitig muss ich sagen, dass mir in den USA häufig ein Phänomen begegnet ist, das den Briten unbekannt ist: Viele Amerikaner sind sich ihrer himmelschreienden Dummheit bewusst und machen daraus auch keinen Hehl. Darin steckt eine gewisse Art von Aufrichtigkeit sowohl sich selbst gegenüber als auch im Dialog mit anderen, die ich in dieser Form in England vermisse. Und Aufrichtigkeit ist eine Qualität, die ich sehr schätze.

Gibt es in der amerikanischen Mentalität auch Merkmale, die Sie ohne solche Vorbehalte schätzen?

Ja, die weitverbreitete Begeisterung für jede Art von Sport beispielsweise. Dass Menschen, die sich ansonsten augenscheinlich selber vollkommen egal sind, für ein Ticket zu den Football-Playoffs sofort Frau und Haus verhökern und eine Woche vor dem Stadion zelten würden, hat mich überrascht. Ich dachte immer, diese breite Schicht des sogenannten „White Trash“, die weder vom Leben noch von sich selbst viel erwartet, hätte es sich in ihrer psychischen Isolation und persönlichen Resignation recht komfortabel eingerichtet, um ungestört auf das Ende zu warten. Meine Annahme war immer, in denen sei alles tot. Aber falsch: Da brennt doch etwas, die Entzündung ist bloß nur punktuell sichtbar. Tatsächlich fand ich genau unter dieser Gruppe von Amerikanern viele, die eine vollkommen unerwartete Begeisterung für die örtliche Football-Mannschaft oder auch ein kanadisches Baseball-Team entwickelt haben.

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