Bryce Dessner

Bryce Dessner

„Musik ist Mathematik, die mit expressionistischen Mitteln gemalt wird.“

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  • Shervin Lainez
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Zur Person

14.01.2014, Berlin. Bekannt wurde Bryce Dessner als der stille, sehr begabte Gitarrist und Songwriter von The National, einer der weltweit derzeit gefragtesten Indierock-Bands. Zunächst insgeheim, seit seiner internationalen Popularität auch zunehmend öffentlich verfolgt der nachdenkliche New Yorker, der einen Yale-Abschluss in Komposition und Musik besitzt, noch eine weitere Leidenschaft: Er komponiert Moderne Klassik und nimmt sie mit renommierten Ensembles und Orchestern auf. Auch seine klassischen Kompositionen tragen eine unverwechselbare Handschrift, ein Aspekt, über den es an diesem verregneten Tag in einem Konferenzraum seiner Plattenfirma zu sprechen gilt. Dessner erklärt die Magie, Funktionsweise und gegenwärtige Popularität von Moderner Klassik, die eigenen und äußeren Erwartungen an die Musik eines Yale-Absolventen sowie seine Suche nach der besonderen Qualität in Musik: ihrem unabdingbaren Individualismus.

Mr. Dessner, wenn man klassische Musik komponiert, was ist dann schwieriger: die ersten oder die letzten Noten zu finden?

Bryce Dessner: Ganz sicher die letzten Noten. Jedes einzelne klassische Stück ist wie eine Reise, die damit verbundenen Gedanken werden von Ort zu Ort transportiert, halten selten an und wollen immer weiter unterwegs sein. In diesem fortwährenden Fluss der Gedankenreise ein Ende zu setzen, ist durchaus schwierig. Zumal ich eines entdeckt habe: Findet man das Ende für ein Stück, ist es stets zugleich der Beginn für das nächste. Die Gedanken reisen also unmittelbar weiter. Was die ganze Sache für den Erzeugenden umso schwieriger macht, denn in dem Moment, wo man entscheidet, dass etwas fertig ist, steht man gleichzeitig wieder ganz am Anfang mit nichts in der Hand außer dem Wissen, dass die Gedanken weiter ziehen und ausformuliert werden wollen.

Ist das tatsächlich immer so?

Ja. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Auf meiner aktuellen Platte befindet sich ein Stück, das am Ende von der Improvisation des Orchesters lebt. Ich gab ihnen zwar Noten an die Hand, aber die Musiker waren frei in der Wahl des Tempos und der Wiederholungsrate dieser Noten. Ich gab damit vorsätzlich ein wenig Kontrolle aus der Hand, um zu sehen, was passiert. Noch während der Aufnahmen dieses improvisatorischen Parts schälte sich aus den Harmonien, die dabei vollkommen zufällig entstanden, das Grundmuster für das nächste Stück heraus. Ich hörte Harmonien, an die ich nicht gedacht hatte, und rhythmische Verschiebungen, die man so niemals komponieren, sondern nur dem Zufall überlassen kann, und aus diesen situativen Tönen kristallisierte sich das Grundmuster und auch der offene rhythmische Ansatz für die nächste Komposition heraus. Und doch hat man Respekt vor diesem Moment, denn er nötigt einem ab, wieder ganz von vorne zu beginnen.

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